Beim flüchtigen Hinsehen passt sogar etwas zusammen bei Scholz und Merz. Der CDU-Vorsitzende, Unionskanzlerkandidat und Oppositionsführer steht am Donnerstagmorgen um 8.45 Uhr auf der Fraktionsebene im Reichstagsgebäude, die außerordentliche Sitzung mit den Abgeordneten ist eben vorbei. Friedrich Merz verkündet, die Union sei „selbstverständlich bereit“, mit der Bundesregierung Gespräche über Themen zu führen, bei denen möglicherweise in der endenden Legislaturperiode noch Beschlüsse gefasst werden müssten. Von „Verantwortung für unser Land“ spricht Merz.
Da ist es noch nicht einmal zwölf Stunden her, dass Bundeskanzler Olaf Scholz den Rauswurf von Finanzminister Christian Lindner verkündet und mitgeteilt hat, wie es weitergehen soll. Er werde „sehr schnell“ das Gespräch mit Merz suchen. Er wolle ihm anbieten, in zwei Fragen, „gerne auch mehr“, die entscheidend für das Land seien, „konstruktiv“ zusammenzuarbeiten, sagt der Kanzler. „Denn unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben, und wir brauchen jetzt Klarheit darüber, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren, ohne dafür den Zusammenhalt im Land aufs Spiel zu setzen.“ Schon für den Mittag hatten sich beide zum Gespräch verabredet.
Doch daraus zu schließen, Scholz und Merz wollten sich nun unterhaken, wäre völlig falsch. Dass die Union über einzelne gesetzgeberische Vorhaben nachdenken würde, hatte Merz kürzlich schon in Aussicht gestellt für den Fall, dass die Ampel zerbrechen, Scholz aber in einer Minderheitsregierung weitermachen sollte. Vielmehr aber hatte die Opposition gesagt, was sie nicht tun werde: in eine Regierung eintreten oder auch nur Scholz zu einer Mehrheit für den Haushalt verhelfen.
Einen halben Tag nach dem Zerfall der Ampel machen Merz und der unter der Reichstagskuppel neben ihm stehende Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, schnell deutlich, dass sie einzelne Schritte der Zusammenarbeit sowieso nur erwägen würden, um ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung nachzukommen. Ein Begriff, der immer öfter zu hören war, je mehr die Ampel in jüngster Zeit ins Schleudern geriet und ein Bruch nicht mehr ausgeschlossen werden konnte.
Im Gegenteil: Merz und Dobrindt wollen einen halben Tag nach dem Rauswurf von Finanzminister Christian Lindner aus der Koalition den Schwung nutzen, um den strauchelnden Kanzler noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dobrindt beginnt in dem kurzen Auftritt mit Merz. Es gebe keine Mehrheit im Bundestag, die Vertrauen in den Bundeskanzler habe. Dobrindt fordert von Scholz, nicht bis zum Januar mit der Vertrauensfrage und bis zum März mit der Bundestagswahl zu warten, sondern schnell zu handeln. Er hat sich ein paar kernige Begriffe für Scholz zurechtgelegt. Jetzt noch länger im Amt zu bleiben wäre „respektlos“, „arrogant“, man könne sich ein „Kanzlerkoma“ nicht leisten. Scholz solle keine „politische Insolvenzverschleppung“ betreiben.
Merz, der Kanzlerkandidat, hat zuvor in der Fraktionssitzung Teilnehmerberichten zufolge zunächst die staatstragende Rolle übernommen und davon gesprochen, wie die Wahl des Republikaners Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten „die Welt verändern wird“. Dann erst hat er sich vor den Abgeordneten Scholz und dem Aus der Ampel gewidmet. Scholz handele nach der Devise, wer nicht für ihn sei, sei gegen ihn. So habe er es auch beim Rauswurf von Lindner gemacht. „Diese Geschichte macht er mit uns nicht“, sagte Merz Teilnehmern zufolge.
Als der Fraktionsvorsitzende kurz darauf draußen vor den Journalisten steht, bekräftigt er Dobrindts Forderung, die Vertrauensfrage nicht erst im Januar zu stellen. Die Union macht Druck, will den Moment der Schwäche der Restregierung offenbar nutzen. Merz kündigt an, er wolle Scholz und Bundespräsident Steinmeier auffordern, den Prozess zu beschleunigen. Als Steinmeier sich um 11 Uhr, noch vor dem Treffen mit Merz, öffentlich zum weiteren Vorgehen äußert, lässt er den Zeitpunkt der Vertrauensfrage unerwähnt.
Die CDU spricht schon lange über die Möglichkeit, dass die Bundestagswahl nicht erst im September kommenden Jahres stattfindet, sondern früher. Als Merz kürzlich zu einer Versammlung von CDU-Kreisvorsitzenden sprach, soll er die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Endes der Regierung auf mehr als fünfzig Prozent beziffert haben.
Allerdings schwangen in der CDU-Spitze immer Zweifel mit, ob Scholz in einem solchen Fall eine vorzeitige Bundestagswahl anstreben würde oder doch eine Minderheitsregierung. Wie auch immer: Die Christdemokraten bereiteten sich auf einen vorzeitigen Wahltermin vor. Vom März 2025 war schon die Rede, bevor Scholz am Mittwochabend Lindner vor die Tür setzte und damit der Ampel das Licht ausknipste.
Wahlen an Karneval?
Spontan hätte einem der 2. März einfallen können, weil da die einzige Landtagswahl des nächsten Jahres stattfindet, in Hamburg. Doch wer die CDU auf dieses Datum ansprach, erhielt gleich ein Kopfschütteln zur Antwort. Zur Begründung hieß es, das sei der Karnevalssonntag. Tatsächlich könnte das in manchen für die CDU wichtigen westdeutschen Flächenländern, vor allem in Nordrhein-Westfalen, für viele Wähler ein Grund sein, die Wahl zu schwänzen.
Im Konrad-Adenauer-Haus sind jedenfalls schon länger konkrete Vorbereitungen getroffen worden. Beispielsweise hatte man besonders große Stellwände für Wahlwerbung am Rande der Autobahn vorsorglich für einen Wahltermin im Frühjahr reserviert. Andere Dinge, wie eine Halle für einen Parteitag, und sei es nur ein kleiner Parteitag, wurden noch nicht reserviert. Es drohen schließlich bei all solchen Vorsichtsmaßnahmen Stornogebühren.
Auch Gedanken, wie man rasch ein Wahlprogramm schreibt, machen sie sich im Konrad-Adenauer-Haus schon länger. Generalsekretär Carsten Linnemann und der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei, sind darüber im Gespräch. Bereits deutlich vor dem Ampel-Aus war für Mitte November eine Zusammenkunft in der Parteizentrale geplant worden, bei der es um die Wahlvorbereitung gehen soll. Sei es, dass am regulären Termin gewählt würde, sei es, dass das vorher geschähe. Nun also Variante zwei.
Dass es jetzt schnell gehen soll, hat für Merz noch einen Vorteil. Zwar ist die Lage in der Union – ganz anders als vor der vorigen Bundestagswahl – stabil. Niemand stellt die Kanzlerkandidatur des CDU-Vorsitzenden infrage. Am Donnerstag stellte sich der CSU-Vorsitzende Markus Söder, der im Wahljahr 2021 für so viel Unruhe gesorgt hatte, glasklar hinter den Kanzlerkandidaten Merz. Dennoch dürfte niemand in der CDU etwas dagegen haben, wenn nun auch gar keine Zeit mehr zum Streiten ist.