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Tausende Häftlinge werden in diesen Wochen aus britischen Gefängnissen entlassen, weil die Haftanstalten zu voll sind. An den unhaltbaren Zuständen in den Knästen ändert das aber wenig.

Es sind Zustände, die an viktorianische Zeiten erinnern. Ratten, Kakerlaken, ständige Gewalt und dramatischer Personalmangel: Die Verhältnisse in den allermeisten britischen Gefängnissen sind katastrophal.

Die Häftlinge sind in ihren Zellen oft 23 Stunden am Tag eingesperrt, weil es nicht genug Sicherheitskräfte gibt. Viele Wärter sind froh, wenn sie auch nur einen Tag in der Woche erleben, an dem es nicht zu gewalttätigen Szenen zwischen den Insassen kommt.  

Und: Die britischen Gefängnisse sind derart überfüllt, dass die neue Regierung bis Ende Oktober mehr als 5000 Gefangene frühzeitig entlassen muss – all die, die mindestens 40 Prozent ihrer Zeit abgesessen haben. Ausgenommen von dieser Regel sind gewalttätige Straftäter.  
Warnungen wurden ignoriert

Es seien Zustände, die er von den Tories geerbt hat, beklagte der britische Premier Keir Starmer jetzt im Parlament. Ihn mache es wütend, erklärte er, Verurteilte vorzeitig entlassen zu müssen.

Ohne diesen Schritt aber riskiere er, dass gewalttätige Straftäter demnächst frei herumlaufen könnten. Starmer hat hier tatsächlich keine andere Wahl.

Sein Vorgänger, Rishi Sunak, hatte wiederholt Warnungen aus dem Justizministerium einfach ignoriert, dass die Kapazitäten in britischen Haftanstalten komplett ausgereizt seien, und das Problem seinem Nachfolger überlassen.

Von den 88.864 insgesamt verfügbaren Betten waren Anfang September 88.521 belegt. Die Randalierer, die nach den August-Krawallen verurteilt wurden, mussten so auch zunächst bei der Polizei in Ausnüchterungszellen verwahrt werden.  
Schlechte Perspektiven

Und so knallen seit einigen Wochen regelmäßig Sektkorken vor britischen Gefängnistoren. Für viele der frühzeitig Entlassenen allerdings dürfte es ein kurzer Ausflug in die Freiheit werden, denn es gibt nicht genug Bewährungshelfer, die sich um sie kümmern können.

Tom, der direkt nach seiner Freilassung von BBC-Kameras abgefangen wird, fasst das Dilemma in wenigen Sätzen zusammen: „Wo soll ich hin? Ich hab genau einen Termin bei der Bewährung. Dann wird mir langweilig, und ich fange wieder an, was zu rauchen. Dann nehme ich härtere Drogen, dafür muss ich klauen, und dann bin ich direkt wieder hier.“

Und was ändert sich in den Gefängnissen?

An den unhaltbaren Zuständen ändere die frühzeitige Entlassungswelle ebenfalls nichts, erzählt Alex South, die zehn Jahre als Gefängniswärterin arbeitete, bis sie nicht mehr konnte und vor drei Jahren hinschmiss:

Es fehlte überall an Personal, deshalb mussten wir die Gefangenen 23 Stunden am Tag wegschließen. Diese Art der Isolation aber führt zu immer mehr Gewalt und Selbstverstümmlung. Ich habe furchtbare Dinge gesehen, Menschen, die sich ihre Lippen zugenäht haben, versucht haben, sich die Augen rauszureißen. Und da sprechen wir noch nicht mal von der Gewalt der Insassen untereinander.

Ganz abgesehen von den unzumutbaren hygienischen Zuständen in den uralten Gebäuden – Bilder, die Alex South noch heute verfolgen: „Ich erinnere mich, wie sich das Gras unter den Fenstern in Wellen bewegte, aber das war nicht das Gras, sondern Hunderte von Ratten darunter. Es ist einfach grauenhaft.“

Neue Gefängnisse – das dauert

Dass die neue Regierung hier schnell etwas ändern kann, glaubt sie nicht. „Das ist eine enorme Aufgabe, die keine Regierung einfach so stemmen kann. Du musst Leute trainieren, die müssen Erfahrung haben, das braucht Jahre.“ Und South bekräftigt: Zurückgehen würde sie auf keinen Fall – „nein, niemals“.

Starmer ist damit in einer schwierigen Lage. Zwar will er neue Gefängnisse bauen lassen, aber das kann Jahre dauern. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als im großen Stil Häftlinge vorzeitig zu entlassen – wohlwissend, dass der erste schwere Zwischenfall mit einem dieser Ex-Häftlinge zu einer handfesten politischen Krise für ihn selbst werden kann.