Zwei von 150: Die einstigen Zivilisten David Uhly und Nora Breyer sind nun Jäger – Soldaten ersten Dienstgrads.
Ein Freitagmittag im Oktober: Die gepflegte Grünfläche vor dem Wiesbadener Kurhaus ist weiträumig abgesperrt. Um zwölf Uhr formieren sich Hunderte von Männern und Frauen in Flecktarn. Die Bundeswehr stellt an diesem Tag ein neues Heimatschutzregiment in Dienst. Ein solches Regiment setzt sich aus Soldaten der Reserve zusammen und hat zur Aufgabe, allgemeine militärische Tätigkeiten zu übernehmen.
Die Soldaten schützen kritische Infrastruktur wie Stromleitungen oder Brücken, bewachen Kasernen oder sperren Straßen – und das, wenn nötig, mit Waffengewalt. Zum Zuge kommen die Reservisten, wenn die kämpfende Truppe der Bundeswehr anderweitig gebunden sein sollte. Zum Beispiel an der NATO-Ostflanke.
Ein solches Szenario war bis vor zwei Jahren für den Großteil der Deutschen so abwegig wie der Gedanke, sich als Bürgerin oder Bürger fortgeschrittenen Alters ohne vorherige militärische Erfahrung der Truppe anzuschließen. Doch dann rief der Kanzler die „Zeitenwende“ aus. Die Bundeswehr erhielt von der Politik nicht nur mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit; auch „das deutsche Volk“, dessen „Recht und Freiheit“ Rekruten bei ihrem Gelöbnis „tapfer“ zu verteidigen versprechen, schaute plötzlich mit anderen Augen auf seine Soldaten. Der jüngste Schritt auf diesem neuen Weg: In der vergangenen Woche stellte Verteidigungsminister Boris Pistorius seine Pläne zur Einführung eines neuen, freiwilligen Wehrdienstes für junge Männer vor.
Diese hatten bis zum Jahr 2011 verpflichtend entweder einen Grundwehrdienst leisten oder sich als „Zivi“ verdingen müssen. Dann setzte Karl-Theodor zu Guttenberg, damaliger Verteidigungsminister der CSU, die Wehrpflicht aus. In den Achtziger- und Neunzigerjahren hatte die Gesellschaft noch darüber diskutiert, ob man Soldaten als Mörder bezeichnen dürfe. Der Pazifismus, der sich aus den Schrecken der beiden von Deutschland ausgehenden Weltkriege nährte, war eine Haltung, die von einer Mehrheit der Menschen unterstützt wurde. Die Bilder der Friedensdemonstrationen in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss gingen in die Geschichte ein.
Die Reservisten des Heimatschutzregiments kämen zum Einsatz, wenn die kämpfende Truppe anderweitig gebunden wäre. Nach Ende des Kalten Krieges erfolgte der Bedeutungsverlust der Bundeswehr schleichend – trotz der Beteiligung an Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten wie im Kosovo, in Afghanistan oder Mali. Der Bundeswehretat sank stetig, was außer den Militärs kaum einen störte. Doch mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine fragten sich auf einmal ziemlich viele Menschen, wer sie eigentlich verteidigen würde, wenn Putin auch NATO-Staaten angreifen sollte.
Das nahm auch die Bundeswehrführung wahr. Zwar hatte sie schon seit der russischen Annexion der Krim 2014 beschlossen, sich verstärkt der Bindung von Reservisten zu verschreiben, dieses Ziel aber nur halbherzig verfolgt. Doch nun ging sie noch einen Schritt weiter. Im ganzen Land rief die Bundeswehr zum Aufbau von neuen Heimatschutzregimentern auf und sprach erstmals dezidiert auch Ungediente an. In Hessen folgten dem Aufruf vom September 2023 mehr als 2600 Bürger.
An diesem Oktobertag in Wiesbaden haben sich neben 700 Reservisten auch 150 Rekruten versammelt, also genau solche Anwärter, die sich entweder schon einmal gegen den Wehrdienst entschieden hatten – oder aufgrund ihres Geschlechts nicht dienen mussten. Mit ihrem Gelöbnis am Ende der Zeremonie sind sie nun Soldaten ersten Dienstgrads, im Militärjargon Jäger genannt.
Ein paar Tage später in Erlensee. Nora Breyers Ehemann Lorenz steht in der Küche und bereitet das Abendessen vor, als die Bankkauffrau und Betriebswirtin von ihrer Arbeitsstelle bei der Sparkasse Hanau nach Hause kommt. Die fröhliche Frau mit dem blonden, welligen Haar verschwindet kurz im ersten Stock. Als sie das Wohnzimmer betritt, hat sie ihr „Arbeitskleid“ gegen Hose und Fleecejacke getauscht.
Nora Breyer arbeitet bei der Sparkasse Hanau. „Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht“, sagt sie über ihre Bewerbung beim Projekt „Ungediente für die Reserve“.
In ihrem Wohnzimmer saß Nora Breyer auch am 24. Februar 2022, jenem Tag, an dem russische Soldaten die Ukraine überfielen. Ausnahmsweise war sie im Homeoffice, der Fernseher lief, sie blickte wie paralysiert auf die russischen Helikopter und Bomben und auf die fliehenden Ukrainer. Sofort musste sie an einen Bekannten denken, einen früheren Sanitätsoffizier der ukrainischen Armee, der seit 30 Jahren in Deutschland lebte.
Wie mussten die Bilder auf ihn wirken? Kurz darauf ging er zurück, um seine Heimat zu verteidigen. Nora und Lorenz Breyer fragten sich: „Was täten wir, wenn wir angegriffen würden?“ Natürlich auch verteidigen! „Und zwar bis zur letzten Patronenkugel“, wie die so freundlich wirkende Nora Breyer sagt. Nur auf welchem Weg sie das tun könnten, war nicht klar.
Auf eine Antwort kam das Ehepaar, als es im vergangenen Jahr las, die Bundeswehr suche Freiwillige für den Heimatschutz. Dass Polizist Lorenz, der in den Achtzigerjahren seinen Wehrdienst absolviert hatte, abgelehnt wurde, weil er seit einem Unfall eine lädierte Halswirbelsäule hat, hielt Nora nicht davon ab, sich für das Pilotprojekt „Ausbildung Ungedienter für die Reserve“ zu interessieren. Eine Teilnahme bedeute, so erfuhr sie, in zwei Blöcken à zehn Tagen eine komprimierte Grundausbildung zu absolvieren.
Die „Musterung“ wollte Breyer unbedingt bestehen
Ein paar Tage lang musste sie darüber nachdenken: Kann ich das? Und vor allem: Will ich das? „Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht“, sagt sie. „Ich wusste ja: Das kann mich mein Leben kosten.“ Recht schnell aber habe sie entschieden, dass sie sich nicht wegducken könne. „Wenn mir etwas wichtig ist, muss ich mich auch dafür einsetzen“, sagt Breyer. „Und mir ist es wichtig, meine Werte zu verteidigen, die Werte unserer freien Gesellschaft.“ Die nämlich bedeuteten für sie Heimat – neben dem Ort, an dem ihre Liebsten leben.
So kam es, dass sie nach 40 Jahren das erste Mal wieder einen Lebenslauf verfasste. Es folgte die Einladung zur Gesundheitsüberprüfung. So heißt heute die Musterung, vor der früher so mancher junge Mann zitterte – weil er fürchtete, nicht ausgemustert zu werden. Nora Breyer hingegen wollte unbedingt bestehen. Im Juni dann erhielt sie wie aus heiterem Himmel einen Anruf: „Frau Breyer, wollen Sie im August bei der Ausbildung dabei sein?“ Nachdem auch die Sparkasse Hanau bereit gewesen war, sie freizustellen, sagte Breyer zu.
Vor 20 Jahren entschied sich Uhly für den Zivildienst
David Uhly hatte etwas mehr Zeit, sich auf einen August in Uniform vorzubereiten. Er wurde vor einem guten Jahr von einem Kollegen an seinem Obertshausener Beruflichen Gymnasium angesprochen, einem Oberstleutnant der Reserve: Ob Uhly sich ein Engagement im Heimatschutz vorstellen könne? Der Lehrer für Politik, Wirtschaft und Sport, als Jugendlicher und junger Erwachsener ein talentierter Fußballer und Leichtathlet, hatte sich einst für den Zivildienst entschieden.
Nicht aus einer klaren Ablehnung der Bundeswehr, sondern unter anderem weil sich der Zivildienst besser mit dem regelmäßigen Training vereinbaren ließ. Den Zivildienst absolvierte er bei einem privaten Pflegedienst, kaufte ein für Senioren, begleitete beeinträchtigte Menschen auf Ausflüge. „Das war eine prägende Erfahrung“, sagt der großgewachsene Mann. „Vorher kannte ich nur das Leben als Schüler, nun hatte ich Verantwortung und Fürsorgepflicht.“
Danach studierte er in Mainz und Kaiserslautern und verbrachte eine Zeit an der Deutschen Schule in Valencia. „So gut es mir dort gefallen hat: Als ich zurückkam, wurde mir noch bewusster, dass Deutschland meine Heimat ist“, sagt Uhly. Seit vier Jahren arbeitet er nun am Beruflichen Gymnasium.
Gymnasiallehrer Uhly sagt: „Gerade als Familienvater möchte ich nicht, dass meine Kinder, dass irgendein Kind Krieg erleben muss.“
Über die Frage seines Kollegen musste Uhly nicht lange nachdenken. An einem sonnigen Oktobersamstag sagt er, der den Kalten Krieg nicht bewusst miterlebt hat: „Wenn man aus dieser Zeit etwas lernen kann, dann, dass Abschreckung die beste Verteidigung zu sein scheint.“ Uhly sitzt bei sich zu Hause am Esstisch, neben der Eingangstür steht ein gerahmtes Foto, das ihn und seine Frau bei ihrer Hochzeit zeigt.
Mittlerweile haben sie zwei kleine Kinder, die ihre Zeit beanspruchen – ein Grund dafür, dass Ina nicht in Jubelstürme ausbrach, als ihr Mann ihr das erste Mal vom Heimatschutzprojekt erzählte. Ihre Unterstützung sicherte sie ihm gleichwohl zu. „Gerade als Familienvater möchte ich nicht, dass meine Kinder, dass irgendein Kind Krieg erleben muss“, sagt Uhly.
Mit seinen Schülern spricht er viel über die Ukraine
Sein Sohn und seine Tochter sind noch zu jung, aber mit seinen Schülern spricht er viel über die Situation in der Ukraine und darüber, was der NATO-Bündnisfall bedeuten würde. Er nimmt wahr, dass viele verängstigt sind und ihn daher fragen: „Herr Uhly, sind wir bald im Krieg?“ Was er dann antwortet? „Ich kann euch das nicht eindeutig sagen. Niemand weiß, was Putin tut. Aber wenn wir eine starke Verteidigung haben, gehe ich davon aus, dass wir nicht angegriffen werden.“
Der Lehrer besuchte im September 2023 eine Infoveranstaltung der Bundeswehr zum Heimatschutz – und bewarb sich am darauffolgenden Tag. Die Musterung war „wie damals“ vor 20 Jahren, sagt er, dann musste er noch die Sicherheitsüberprüfung abwarten, die die Gesinnung der Bewerber in den Blick nimmt. Extremisten will sich die Bundeswehr nicht ins Boot holen. Als die endgültige Einladung vorlag, beantragte Uhly bei seinem Schulleiter, die Woche nach den Sommerferien freigestellt zu werden. Am 31. Juli startete das erste Ausbildungsmodul in der Kaserne in Speyer, an dem auch Nora Breyer und rund 150 weitere Personen teilnahmen.
Die beiden Module, die sie mit einer kurzen Unterbrechung direkt hintereinander absolvierten, beschreiben Uhly und Breyer mit ähnlichen Worten. Sie berichten von sehr motivierten und aufgeschlossenen Rekruten und einem hohen Grad an Kameradschaft. Beide erwähnen jedoch auch, dass es notwendig war, sich ab und an auf die Zunge zu beißen. „Es hat sich ein Stück weit schon so angefühlt, als würde man seine Persönlichkeit am Kasernentor abgeben“, sagt Breyer. Sie kann nachvollziehen, dass es ohne Disziplin beim Bund nicht funktioniert, aber warum man bei Augusthitze nicht den Ärmel der Anzugjacke über den Handknöchel umschlagen darf, das kann sie noch immer nicht verstehen. Mit einem Lachen sagt sie: „Es war aber durchaus eine Erkenntnis, dass man das Schwitzen aushält.“
Auch David Uhly hat den Satz „Das haben wir schon immer so gemacht“ im August nicht nur einmal gehört. Dabei sollte die Bundeswehr seiner Auffassung nach das zivilgesellschaftliche Know-how, das durch die Ungedienten in das System diffundieren könnte, besser nutzen. „Aus meiner Sicht ist das Projekt ein Glücksfall für die Organisation“, sagt Uhly. Er habe jedoch den Eindruck, dass die Bundeswehr noch nicht sonderlich geübt darin sei, an den dafür notwendigen Stellschrauben zu drehen.
Uhly sagt: „Da warten Synergien darauf, gehoben zu werden.“ Aus der Bundeswehr selbst ist zu hören, man sei sich des Potentials, das die Reservisten mitbringen, sehr bewusst. Sie stellten mit ihrem oft hohen Bildungsniveau eine große Bereicherung dar und würden die Truppe zwangsläufig verändern. Zudem erhofft sich die Bundeswehr, dass die Ungedienten als Multiplikatoren in die Gesellschaft hineinwirken und helfen, Mythen über die Organisation zu beenden.
Militärische Traditionen sind in der Bundeswehr fest verankert – wie auch Disziplin und Gehorsam.
David Uhly, als Lehrer normalerweise der, der Lerninhalte vermittelt, spricht von „super viel Input“, den die Rekruten in den 20 Tagen erhalten hätten. Frühmorgens ging es los, Feierabend war erst zu später Stunde. Gleichzeitig berichten er und auch Nora Breyer von Leerlauf, der bei besserer Organisation effizienter hätte genutzt werden können. Ein Mitarbeiter der „Abteilung Informationsarbeit“ beim Landeskommando Hessen verweist darauf, dass auch die meisten Ausbilder Reservisten seien. Einer habe kurzfristig nicht freinehmen können, ein anderer habe sich krankmelden müssen.
Ein Fokus der Ausbildung: Schießen mit dem Sturmgewehr
Neben der Sanitätsausbildung lag ein Schwerpunkt auf der Schießausbildung am Sturmgewehr G36, das die Rekruten vier Tage lang von morgens bis abends mit sich herumtrugen und nur beim Toilettengang an einen Kameraden abgaben. „Daran hatte ich mich schnell gewöhnt“, sagt Nora Breyer. Als Jägerin hat sie Übung im Umgang mit Waffen; auf Scheiben zu schießen, die Menschen darstellen, war zwar neu für sie, schwierig fand sie es aber nicht: „Das Schießen im Schießkino und auf der Schießbahn war für mich ein Erfolgserlebnis.“
David Uhly hingegen hatte erst kurz vor der Ausbildung das erste Mal eine Waffe in der Hand, als er seinen Lehrerkollegen zu dessen Reservistenkameradschaft begleitete, kam damit jedoch schnell klar – und fühlte sich sportlich herausgefordert. „Beim Schießen wollte ich ein möglichst perfektes Ergebnis erreichen, und das hat funktioniert“, sagt Uhly. Beide sprechen über das Schießen nicht so, als bereite es ihnen ein enormes Bauchgrimmen, als Soldat im Ernstfall Feinde töten zu müssen.
Die 36-Stunden-Übung forderte Körper und Geist
Bleibenden Eindruck hinterließ bei Breyer und Uhly zudem die 36-Stunden-Übung, bei der alle 150 Rekruten ein fiktives Pumpspeicherwerk sicherten. Mit schweren Rucksäcken versehen, marschierten sie durchs Gelände, gruben Stellungen aus, wachten die ganze Nacht. Uhly rannte als Melder eine Stunde lang zwischen mehreren Stellungen hin und her – auch für den Sportlehrer eine körperliche Herausforderung.
Als er zu seinen Schülern zurückkehrte, fragten diese ihn, warum er die Ausbildung gemacht habe – wie fast jeder, dem er davon erzählt. David Uhly verweist dann nicht nur auf seine Motivation, den nachfolgenden Generationen ein Leben in Frieden zu ermöglichen, sondern auch auf den Beitrag, den er für eine füreinander einstehende Gesellschaft leisten möchte. „Jeder sollte der Demokratie etwas zurückgeben, die fragiler ist, als wir denken. Man kann nicht immer nur nehmen.“ Den Vorschlag, ein „Deutschlandjahr“ einzuführen, hält er für eine gute Idee. Seine Schüler haben gemischte Gefühle. Zumindest die Jungs unter ihnen müssten sich nach den Plänen der Bundesregierung mit der Frage auseinandersetzen, ob sie es sich vorstellen können zu dienen.
Wie es für die frischgebackenen Reservisten Nora