Gerichtsverfahren um Gisèle Pelicot in Avignon: Schock für Frankreich
Inmitten des Schreckens über die himmelschreiende Brutalität von Dominique Pélicot, der seine betäubte Ehefrau fremden Männern zur Vergewaltigung überließ, hat in Frankreich eine Art Selbstinspektion begonnen. Über die anhaltende Bewunderung für den Mut des Opfers Gisèle Pelicot hinaus, die kurz vor Prozessbeginn in Avignon gegen fünfzig ihrer Peiniger entschied, die Verhandlung nicht als huis clos, sondern vor aller Augen zu führen, stellen sich hier grundsätzliche Fragen: Wie kann es sein, dass mehr als die Hälfte der fünfzig Angeklagten trotz einschlägiger Videobeweise auf „nicht schuldig“ plädiert? Wie kommen sie (oder wenigstens einige von ihnen) dazu, vom Einverständnis des Mannes zu den Taten auf das der Ehefrau zu schließen? Und was sagt das über das in Frankreich herrschende Verhältnis der Geschlechter?
Eine der ersten, die diese Fragen aufwarf, war Hélène Devynck, Journalistin und Autorin, die in einem offenen, an Gisèle Pelicot gerichteten Brief, den „Le Monde“ publizierte, die Verteidigungsstrategie der Angeklagten in Avignon zerpflückte. In deren Beteuerungen, man habe geglaubt, Gisèle Pelicot stelle sich nur schlafend oder führe mit ihrem Mann eine libertäre Ehe, sieht Devynck „eine lupenreine Kostprobe patriarchaler Gewalt und der Masken, hinter denen sie sich versteckt, um zu gedeihen“.
Keineswegs außergewöhnliche Männer
Die Verteidigung wegen sexueller Übergriffe angeklagter Männer sei stets die gleiche: Sie stellten sich selbst als Opfer dar und begegneten den gedemütigten Frauen mit zusätzlicher Verachtung. In der Weigerung der meisten Angeklagten von Avignon, die Vergewaltigungen zuzugeben, sieht Devynck daher ein Echo auf viele der unzähligen Fälle sexuellen Missbrauchs, die Frankreich in den vergangenen Jahren erschüttert haben. Und zu denen ununterbrochen neue hinzukommen. Zuletzt erst der Fall des Abbé Pierre – wie Gérard Depardieu, Jacques Doillon und Benoît Jacquot ein weiterer Säulenheiliger Frankreichs –, der nach Enthüllungen über seine jahrzehntelang gedeckte, sexuelle Übergriffigkeit postum vom Sockel stürzt.
Einige dieser angeklagten Männer ruft Hélène Devynck in ihrem offenen Brief explizit noch einmal in Erinnerung – man kann nur staunen über die lange Liste mit Namen bekannter Männer, zu denen auch der von Patrick Poivre d’Arvor gehört, den Devynck selbst wegen Vergewaltigung verklagt hat. In diesem Sommer wurde gegen den einstigen Moderator der Hauptnachrichtensendung im französischen Fernsehen eine Untersuchung eingeleitet.
Dass sich der Fall von Avignon in diese Liste nicht einfach einreihen lässt, liegt zum einen an dem seltenen Umstand, dass die Taten so gut dokumentiert sind und in allen erschütternden Details in die von Anbeginn sehr interessierte, internationale Öffentlichkeit getragen wurden. Es liegt aber auch daran, dass die außergewöhnlich schlimmen Verbrechen von keineswegs außergewöhnlichen Männern begangen wurden, Feuerwehrleuten, Familienvätern, Fernfahrern. Jonathan Bouchet-Petersen schrieb in „Libération“, in der von Gisèle Pelicot erlittenen Gewalt offenbare sich eine „banalité du mâle“, die Banalität des Männlichen. Es sei zu feige und bequem, von Monstern zu sprechen, die ihre Menschlichkeit verloren hätten. Wie andere männliche Kommentatoren begreift Bouchet-Petersen den Prozess „als Einladung, unser Mannsein in modernen Gesellschaften, in denen Geschlechterungleichheiten nach wie vor offenkundig sind, zu hinterfragen“. Eine Aufgabe, der sich die gesamte Gesellschaft zu stellen habe, inklusive der Politik.
An diese richten sich auch die Appelle zahlreicher Kommentatoren, die sich durch den Pelicot-Prozess an einen anderen, seinerzeit bewusst öffentlich ausgetragenen Prozess erinnert fühlen, der fast fünfzig Jahre zurückliegt. Die „Affaire von Aix“ ging seinerzeit in die Geschichtsbücher ein, weil sie 1980 den letzten Anstoß gab, um die bis dahin aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Gesetzgebung zur Vergewaltigung zu präzisieren.
Ihr Fall steht für mehr: Gisèle Pelicots Gesicht an einer Wand in Gentilly, südlich von Paris.
Damals wurden insbesondere die Tatbestände der Nötigung und der Überwältigung als konstitutive Elemente einer Vergewaltigung definiert und gesetzlich festgeschrieben. Neben Hélène Devynck, die diese Definition heute als heuchlerisch bezeichnet, weil sie dem Täter die Entscheidung überlasse, ob seiner Tat die Absicht einer Vergewaltigung zugrunde lag oder nicht, kritisieren viele andere die geltende Gesetzgebung als unzureichend.
Die Juristin Catherine Le Magueresse etwa sieht den Prozess als Ausdruck einer „culture du viol“, einer Vergewaltigungskultur, die auf dem verbreiteten Verständnis beruhe, dass Männer über Frauen und deren Körper einfach verfügen könnten – genau so, wie es sich in den Verteidigungsversuchen einiger Angeklagter in Avignon offenbarte. „Dieser (vermeintliche) Anspruch auf Aneignung der Frauen und ihrer Körper wird durch das Recht unterstützt, weil dieses Recht keine explizite Zustimmung erfordert“, sagte Catherine Le Magueresse dem Radiosender France Culture.
Wie etliche andere ruft sie deswegen dazu auf, das explizit geäußerte Einverständnis der Frauen zum Geschlechtsakt in die gesetzliche Definition der Vergewaltigung aufzunehmen – und damit eine Debatte aufzugreifen, die in der Nationalversammlung bereits geführt wurde, bevor Emmanuel Macron das Parlament im vergangenen Juni auflöste und die Diskussion über die zentrale Frage abbrach: Wie können Opfer sexueller Übergriffe mithilfe des Gesetzes künftig besser geschützt werden?