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Als die R+V-Versicherung kürzlich die Bürger nach ihren größten Ängsten fragte, stand ein Thema weit oben auf der Liste: die Sorge, dass das Wohnen unbezahlbar wird. Mehr als jeden Zweiten der rund 2400 Befragten treibt diese Sorge um. Noch verbreiteter ist nur die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten und der Überforderung des Staates durch die Flüchtlinge – zwei Punkte, die mit der Wohnungsfrage zusammenhängen.

Seit mehr als zehn Jahren wird über die Wohnungsnot und die steigenden Mieten in den Ballungszentren diskutiert. Auf den zunehmenden Frust darüber in der Gesellschaft reagierte Olaf Scholz (SPD) mit der Wiedereinführung eines eigenständigen Bauministeriums. Doch gebessert hat sich die Lage nicht, im Gegenteil. Mit der hohen Zahl von Zuwanderern steigt die Nachfrage nach Wohnraum. Statt der nötigen 500.000 bis 600.000 neuen Wohnungen im Jahr werden aber nicht einmal 300.000 fertig.

In den Stadtzentren von Berlin und München müssen Haushalte heute rund 37 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Kaltmiete ausgeben, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ermittelt. Dass die von Bauministerin Klara Geywitz (SPD) angestoßenen Veränderungen das Problem lösen, erwarten Experten nicht. „Wir müssen davon ausgehen, dass die Wohnungsknappheit noch lange anhalten wird, mindestens bis zum Ende dieses Jahrzehnts“, sagt Michael Voigtländer, Immobilienökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). „Wir strangulieren uns selbst.“

Vorgaben zu Energieeffizienz und Lärmschutz

Auf mehr als 4300 Euro je Quadratmeter Wohnfläche beziffert die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (ARGE) die durchschnittlichen Baukosten in einer deutschen Großstadt, plus anteilig 820 Euro für das Grundstück. Gegenüber dem Jahr 2020 sind die Herstellungskosten um knapp 43 Prozent gestiegen, was die Verbände der Wohnungswirtschaft unter anderem auf die immer strengeren Vorgaben zur Energieeffizienz und zum Lärmschutz zurückführen. Die Folge: In Großstädten kratzen die Kaufpreise für Neubau­wohnungen nicht selten an der 10.000-Euro-Marke je Quadratmeter. Mieter sehen sich mit Kaltmieten von 20 Euro und mehr konfrontiert. Weil das nur eine kleine Gruppe zahlen kann, wurden zuletzt viele Neubauprojekte gestoppt.

„Die Wohnungsbaukrise ist gefährlich sowohl für den Wirtschaftsstandort Deutschland als auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land“, warnt Axel Gedaschko, Präsident des Immobilienverbands GdW. Viele Wohnungssuchende seien schlichtweg verzweifelt. Die Bundesregierung will mit einer Novelle des Baugesetzbuchs das Bauen wieder einfacher und günstiger machen. Doch die Debatte im Bundestag am vergangenen Donnerstag zeigte, wie schwer Änderungen sind. Ein Beispiel ist der geplante Paragraph 246e. Dieser sieht vor, dass in angespannten Wohnungsmärkten künftig ohne das übliche Bebauungsplanverfahren mit Bürgerbeteiligung und Umweltprüfungen gebaut werden darf, sofern es um ein Haus mit mindestens sechs Wohnungen geht. Eine bereits existierende Ausnahme für Flüchtlingsunterkünfte soll befristet bis Ende 2027 auf den Wohnungsbau insgesamt erweitert werden. Doch das ist umstritten. Von einem „Spekulationsturbo“ sprach die Grünen-Abgeordnete Christina-Johanne Schröder. Zuvor hatten Mieterbund und Umweltverbände gefordert, den Paragraphen nicht einzuführen. Noch im Stadium der Kabinettsabstimmung befindet sich eine Gesetzesreform zum „Gebäudetyp E“, mit dem das Abweichen von teuren DIN-Normen erleichtert werden soll.

„Es dauert in Deutschland absurd lange, Bauland zu entwickeln“, kritisiert IW-Fachmann Michael Voigtländer. Die Sorge vor einem Wildwuchs an neuen (Luxus-)Wohnhäusern teilt er nicht. „Die Kommunen können ja in Konzeptvergaben festlegen, wie viele preiswerte Wohnungen entstehen sollen.“ GdW-Präsident Axel Gedaschko wünscht sich ein wuchtigeres Signal von der Regierung. „Die Schaffung von Wohnraum muss gerade in sogenannten Mangelgebieten ganz offiziell als ‚überragendes öffentliches Interesse‘ behandelt werden. Im Baurecht sollte eine Generalklausel eingeführt werden, so wie sie im Erneuerbare-Energien-Gesetz steht.“

Schon zwei Zinssenkungen der EZB

Aktuell zögern viele Bauwillige auch wegen der Finanzierungskosten. Wenn Baukredite wieder zu Zinssätzen von weniger als drei Prozent zu haben seien, werde die Nachfrage steigen, vermutet Voigtländer. „Dann ist der Paragraph 246e der Schlüssel zum Bauen.“ Die zwei bisherigen Senkungen des Leitzinses durch die Europäische Zentralbank (EZB) hatten laut einer Analyse des Ifo-Instituts noch keinen Effekt auf die Bautätigkeit. Der Auftragsmangel im Wohnungsbau hat sich im September vielmehr verschärft. 52,9 Prozent der Unternehmen in der Branche waren davon betroffen.

Am höchsten sind die Kaufpreise und Mieten in München. Die höchsten Steigerungsraten gab es in den vergangenen Jahren indes in Berlin. Aktuell werden Wohnungen in der Hauptstadt im Schnitt, alle Baujahre eingerechnet, für mehr als 15 Euro Kaltmiete je Quadratmeter inseriert, geht aus den Zahlen des Analyseinstituts Empirica hervor. Bis 2018 waren es weniger als zehn Euro. Entsprechend umkämpft ist die Berliner Wohnungspolitik. Nach dem vom Bundesverfassungsgericht gekippten Mietendeckel fordert ein Bündnis die Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Auf Bezirksebene wird der Artenschutz teils höher gewichtet als die Bekämpfung der Wohnungsnot. Schon seit mehr als zehn Jahren wird beispielsweise um das Projekt „Pankower Tor“ mit rund 2000 Wohnungen gerungen. Erst sollten die auf dem früheren Rangierbahnhof heimisch gewordenen Kreuzkröten nach Brandenburg umgesiedelt werden, nun sollen sie doch bleiben können. Erwarteter Baustart mittlerweile: nicht vor 2026.

Das föderale System in Deutschland mit 16 unterschiedlichen Landesbauordnungen und noch viel mehr Einzelregelungen der Kommunen bremse den Neubau systematisch aus, sagt Voigtländer. In Ländern wie Dänemark und Frankreich laufe das besser, auch weil mehr zentral entschieden werde. In den Reihen von CDU/CSU wird Bauministerin Geywitz eine „Königin ohne Land“ genannt. Die Immobilienverbände sind dennoch froh, dass es sie gibt. Die Bundeszuschüsse für den Bau von Sozialwohnungen sind unter Geywitz’ Ägide deutlich gestiegen.

Auch das neue Förderprogramm „Klimafreundlicher Neubau im Niedrigpreissegment“, kurz KNN, kommt in der Branche gut an. Es verschärft die Energiestandards zumindest nicht noch weiter. Zusammen zwei Milliarden Euro sollen dieses und nächstes Jahr daraus vergeben werden – vorausgesetzt, die Koalition kann sich im November auf einen tragfähigen Bundeshaushalt für 2025 einigen.