In seiner ersten Woche als Kanzler hat Friedrich Merz eine Reiseroute auf die Karte Europas gezeichnet, die aussieht wie die Kontur eines außenpolitischen Programms: Paris, Warschau, Brüssel, Kiew. Dass seine Spuren sich außerdem in der ukrainischen Hauptstadt mit denen des britischen Premierministers Keir Starmer, des polnischen Regierungschefs Donald Tusk sowie der Präsidenten Frankreichs und der Ukraine, Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyj, kreuzten, ergänzt diesen ersten Schnappschuss der außenpolitischen Geometrie, in die Merz seinen Start gebettet hat. Sie hat drei Eckpunkte.Erstens: Der Kanzler sammelt seine Partner gegen Russlands Aggression vor allem in Europa, und zwar nicht nur in der EU selbst, sondern auch außerhalb. Zweitens: Alle zusammen signalisieren, dass sie als „Koalition der Willigen“ die Ukraine noch deutlicher unterstützen wollen als bisher. Drittens: Amerika, dessen Präsident nur am Telefon dabei war, bleibt zwar Wunschpartner, aber vielleicht eben auch mehr Wunsch als Partner.Das erste Signal seiner AmtszeitAm letzten Wochenende ist dieser Grundriss nicht nur in den Flug- und Zugrouten des Kanzlers sichtbar geworden, sondern auch in denen von vier anderen europäischen Staats- und Regierungschefs. Das ist wohl vor allem Merz zu danken. Nicht nur seine eigenen Leute sehen das so. Auch Zeugen aus dem ukrainischen Regierungsapparat glauben, dass der Kanzler persönlich bei der Organisation dieser Solidaritäts-Sternfahrt eine „ganz zentrale Rolle“ gespielt hat. Schon vor seinem Amtsantritt, das bestätigen mehrere Quellen, habe er alle Räder in Bewegung gesetzt, um Macron, Tusk und Starmer so schnell wie möglich um Selenskyjs Tisch zu versammeln. Amerika mag wackeln, aber wir stehen zusammen – das sollte das erste Signal seiner Amtszeit werden.Sogar bei der Opposition bekommt er dafür Applaus. „Die Kiew-Reise von Merz, Macron, Starmer und Tusk war gut“, sagt etwa der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter. „Es ist gut, dass die Europäer in der Koalition der Willigen den Ukrainern und den Amerikanern, aber auch den Russen klar gemacht haben, dass sie als eigenständiger Player für die Ukraine einstehen.“

Diese „Eigenständigkeit“ gehorcht freilich vor allem Amerika gegenüber mehr der Not als dem eigenen Triebe. Merz ist eigentlich durch und durch Atlantiker, aber auch er musste erkennen, dass der Atlantik in der Ära Trump mehr trennt als verbindet. Anfang März, gleich nach seinem Wahlsieg, hat er das der F.A.S. gegenüber in die Worte gefasst, bei Amerika hoffe er zwar auf „das Beste“, bereite sich aber trotzdem auf „das Schlimmste“ vor.Dass er jetzt bei der Viererreise nach Kiew an die Spitze getreten ist und dabei in Kauf genommen hat, dass Trump nur fernmündlich dabei war, ist die direkte Folge der Erkenntnis, dass Amerika zwar weiter unersetzlich scheint, aber nicht mehr verlässlich ist. Der Kanzler, sagt der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter dazu, suche zwar weiter die „engste Abstimmung mit den USA“. Neu aber sei, dass er „keine einseitigen Abhängigkeiten“ entstehen lasse und sich umso enger mit europäischen Partnern verbinde. „Das ist anders als unter Olaf Scholz, der sich fast ausschließlich mit Präsident Joe Biden abstimmte, aber mit Emmanuel Macron öffentlich stritt und mit Donald Tusk nie warm wurde“, meint Kiesewetter.Merz muss neue Partner für die nukleare Abschreckung suchenIn der Regierungserklärung des Kanzlers vom Mittwoch schwang diese unfreiwillige Distanz zu Washington mit. Die Ukraine, sagte Merz da, dürfe keinem „Diktatfrieden“ unterworfen werden. Er selbst arbeite hart daran, dass diese Sicht nicht nur in Europa vertreten werde, „sondern auch von unseren amerikanischen Partnern“.Weil er aber auf Amerika, das seit der Detonation der ersten sowjetischen Atombombe im Jahr 1949 immer die unentbehrliche nukleare Schutzmacht der Bundesrepublik war, nicht mehr bauen kann, muss Merz jetzt auch für die nukleare Abschreckung Russlands neue Partner suchen. Die Atommacht Frankreich bietet sich an. Seit Jahren bringt sie ihr Arsenal für Europa ins Gespräch, aber die Vorgänger des Kanzlers sind darauf bisher nie eingegangen.Merz hat umgesteuert. Am Tag nach seinem Amtsantritt flog er nach Paris und kündigte ein neues Format für nukleare Gespräche an. Sogar einen Namen hatte er parat: „3-plus-3“ soll die Runde heißen, in der die Vertreter der Regierungschefs sowie der Außen- und der Verteidigungsminister von Frankreich und Deutschland über die Zukunft der Abschreckung sprechen werden.Donald Tusk, Keir Starmer, Wolodymyr Selenskyj, Emmanuel Macron und Friedrich Merz bei einer Totenehrung auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. In der Mitte Selenskyjs Frau Olena.dpaMacron zog nach. Am letzten Dienstag stellte er in Aussicht, Frankreich könne seine Atomwaffen „ähnlich, wie es die Amerikaner tun“, anderen europäischen Ländern zur Abschreckung anbieten. Deutsche Militärs sagen dazu zwar, all das könne angesichts des relativ kleinen französischen Arsenals höchstens der erste Schritt auf einem sehr langen Weg sein, aber es bleibt dabei, dass noch nie ein deutscher Kanzler und ein französischer Präsident so große Schritte auf diesem Weg gewagt haben.