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Ist der amerikanische Traum am Ende? Eine Analyse des Unternehmergeistes in den USA

Wer ein Auto fahren will, braucht einen Führerschein. In den Vereinigten Staaten darf man schon mit 16 Jahren ans Lenkrad. Im Jahr 1997 hatten 43 Prozent der 16 Jahre alten Amerikaner einen Führerschein und 62 Prozent der Siebzehnjährigen. Heute, fast dreißig Jahre später, liegt der Anteil deutlich niedriger mit 25 Prozent der Amerikaner mit 16 Jahren und 45 Prozent der Amerikaner mit 17 Jahren. Die Fahrlizenz ist für viele auf der persönlichen Wunschliste nach unten gerutscht. Junge Amerikaner zögern – im Vergleich mit früheren Generationen – auch mit dem Autokauf und verschieben ihn auf später im Leben.

Die Deutung, dass die jungen Menschen sich den Führerscheinerwerb und einen fahrbaren Untersatz nicht leisten können, liegt nahe und findet ihre Untermauerung in verschiedenen Studien. Zugleich stimmt allerdings, dass selbst die Sprösslinge unterprivilegierter Familien teure Smartphones zur Verfügung haben, die zwar weniger als ein gebrauchter Toyota Corolla kosten, aber in der Regel mehr als ein Führerschein.

Junge Leute verdienen seltener Geld

Eine erhellende Interpretation liefert eine andere Statistik. In den Neunzigerjahren gingen zwischen 51 und 57 Prozent der amerikanischen Jugendlichen einem Ferienjob nach. Wenn erfolgreiche Amerikaner nostalgisch von ihren Sommerjobs bei McDonald’s erzählen, zele­brieren sie die Erfahrung als Übergangsritus vom Jugendlichen zum Erwachsenen, mit dem sie Unabhängigkeit und Verantwortung erwarben. Nach jüngsten Erhebungen aber sind es nur noch ein Drittel der jungen Leute, die sich durch den Sommer jobben. Das heißt: Sie verdienen seltener Geld.

Auch für diesen Trend gibt es gute Gründe. Angeführt wird, dass die Teenager häufiger Nachhilfe-Klassen in den Sommerferien besuchen und deshalb keine Zeit zum Jobben finden. Darin spiegelt sich die große Sehnsucht vieler amerikanischer Eltern, die Kinder aufs College und damit in vermeintlich sichere finanzielle Verhältnisse zu beamen.

Das hat allerdings seinen Preis. Selbst verdientes Geld und ein Auto versprechen Autonomie und Freiheit. Junge Amerikaner legen darauf weniger Wert oder finden aus anderen Gründen keinen Zugang dazu. Spiegelt sich darin eine schwindende Lust auf Eigenständigkeit, weniger Abenteuerlust, ein nachlassender Unternehmergeist gar?

Sozialer Aufstieg durch Mobilität

Amerikaner unterschieden sich in der Vergangenheit vom Rest der Welt durch eine revolutionäre Idee, schreibt der Historiker Yoni Appelbaum: Wenn du mit deinem Platz im Leben nicht glücklich bist, dann kannst du einen besseren Platz finden und dich neu erfinden! „Amerikaner zogen in nie da gewesener Häufigkeit zu neuen Orten. Für 200 Jahre war diese bemerkenswerte Mobilität der Dreh- und Angelpunkt für die amerikanische Wirtschaft und den sozialen Aufstieg.“ Über Jahrhunderte hätten Amerikaner versucht, nach oben zu kommen, indem sie umzogen. Mobilität sei der Motor des Wohlstands und des sozialen Ausgleichs gewesen.

In der Hochphase zog Appelbaum zufolge jedes Jahr einer von drei Amerikanern weiter. Noch in den Sechzigerjahren gab Jahr für Jahr jeder fünfte Amerikaner seinen Wohnsitz auf, um innerhalb der Stadt oder des Bundesstaats oder innerhalb des ganzen Landes umzuziehen. Im Jahr 2022 war nach den Statistiken der Anteil der „Wegzieher“ von gut 20 auf 8,7 Prozent gesunken. Dabei beflügelte am aktuellen Rand ein Subtrend sogar noch die Wegzug-Neigung: Während der Pandemie verließen Menschen die großen Städte, um sich in den sonnigeren Südstaaten des Landes niederzulassen. Mit einer Wegzugquote von 8,7 Prozent liegen die Amerikaner ungefähr auf oder sogar unter dem Niveau der Deutschen, von denen nach einer Hochrechnung der Deutschen Post rund 10 Prozent jedes Jahr umziehen.

Keine Frage, sagt der Demograph William Frey von der Denkfabrik Brookings Institution, die generelle Mobilität der Amerikaner sei historisch niedrig. Doch sie verdiene einen zweiten Blick. Mit Abstand am stärksten zurückgegangen seien die Umzüge innerhalb eines Kreises und von einem Kreis zum Nachbarkreis. Diese Umzüge machten immer schon das Gros der Mobilität aus. Der Wegzug in einen anderen Bundesstaat war dagegen immer schon seltener und hat zuletzt sogar spürbar zugenommen.

Das „Einfach-mal-abhauen“ war nie einfach

Doch auch der starke Rückgang lokaler Umzüge verdient Beachtung. Der Befund bedeutet in der Regel, dass junge Leute in den Kellerwohnungen ihrer Eltern verharren, später heiraten, eine Familie und einen eigenen Hausstand gründen. Forscher des Urban Institute fanden heraus, dass der Anteil der Amerikaner zwischen 15 und 34 Jahren, die mit ihren Eltern leben, von 12 Prozent im Jahr 2000 auf 22 Prozent im Jahr 2017 gestiegen ist. Auch eine offizielle Haushaltsbefragung von 2022 zeigt, dass rund ein Fünftel aller jungen Erwachsenen von zu Hause nicht weggekommen sind. Andererseits können lokale Umzüge durch das Streben nach besseren Verhältnissen motiviert sein, wenn die Menschen etwa in Stadtteile mit besseren Schulen umziehen.

Das „Einfach-mal-abhauen“ war nie einfach. Aber heute ist es auf eine moderne Weise kompliziert. Früher war der Anteil der Familien mit Alleinverdiener größer. Wenn dieser eine Chance im Westen witterte, dann war der ökonomische Vorteil klar und aufgrund patriarchalischer Machtverhältnisse auch umsetzbar. Heute haben viele Menschen Partner, die auch verdienen und für die sich die gleichen Chancen auftun müssen, damit sie mitziehen wollen. Das bremst.

Hinzu kommt, dass die amerikanische Gesellschaft älter wird und der Anteil der jungen Leute sinkt. Junge Leute aber ziehen generell häufiger um, wie die Auswertungen von Frey zeigen, wobei zuletzt Umzüge der Älteren zulegten.

Heftiger Anstieg der Immobilienpreise

Ein bremsender Faktor ist offenkundig, dass in den Sehnsuchtsorten der Erfolgshungrigen die Immobilienpreise in den vergangenen zwanzig Jahren heftig gestiegen sind. In der San Francisco Bay Area, die mit dem Silicon Valley eine der produktivsten Regionen der Welt ist, haben die Hauspreise sich binnen zwei Dekaden verdreifacht. Das ist auch Folge lokaler Baupolitik, die durch berüchtigte „Nimby“ geprägt wird. Nimby kürzt „not in my backyard“ ab und steht für die braven Bürger, die ihren Einfluss nutzen, um Bauprojekte in der Nachbarschaft zu verhindern – und das mit Erfolg. Von Januar 2022 bis September 2023 hat San Francisco 2400 Wohnungseinheiten genehmigt oder knapp 300 per 100.000 Einwohner. Das ist eine der niedrigsten Neubauraten in den USA. In Städten wie Denver oder Austin entstanden pro Kopf 5- bis 10-mal so viele Wohneinheiten pro Einwohner.

Knappheit, technischer Fortschritt und frische Perspektiven nach der Pandemie begünstigen eine neue Entwicklung, die auf der Erkenntnis fußt, dass man ja gar nicht umziehen muss, um für einen weit entfernten Arbeitgeber zu schaffen. Das gilt nicht für Dachdecker, Tischler oder Zahnärzte, aber doch für Programmierer, Sicherheitsexperten und die ungezählten Protagonisten der Videokonferenz-Ökonomie, die von ihren suburbanen Eigenheimen aus die Welt bedienen.

Vielleicht aber ist der amerikanische Aufstiegstraum nur ein großes Missverständnis. Der konservative Ökonom Oren Cass glaubt das. Er hat die Denkfabrik American Compass gegründet. Cass schreibt, dass das politisch vorherrschende Verständnis vom „American Dream“ als eine Chance, im Leben voranzukommen oder die Spitze zu erklimmen, von den Normalbürgern nicht geteilt werde. Er beruft sich dabei auf Befragungen seiner Denkfabrik. Niemand habe zwar etwas gegen die Vorstellung von Amerika als Ort, wo man Großes erreichen könne. Doch die Obsession der politischen Klasse mit Aufstiegschancen sei fehl am Platz. Wichtiger als Chancen und Mobilität sei den Menschen Sicherheit und Stabilität. Cass verweist auf eine ältere Umfrage von Pew Research. Die Leute wurden darin gefragt, was ihnen wichtiger sei: „Finanzielle Stabilität“ oder „Aufsteigen auf der Einkommensleiter“. Die Leute votierten im Verhältnis von 12 zu 1 für die Stabilität.

Die Amerikaner gründen

Das klingt fast spießig, um nicht zu sagen europäisch. Diese Deutung liegt etwas quer zu einer Dynamik, die Amerikaner in einer Hinsicht an den Tag legen. Sie gründen. Seit dem Pandemie-Sommer 2020 erleben die Vereinigten Staaten eine Welle an Start-ups. Anfang des Jahres trompetete Präsident Joe Binden stolz in die Welt hinaus, dass in seinen ersten drei Amtsjahren 16 Millionen Anträge auf Unternehmensgründungen bei den Behörden eingegangen seien. Von wegen nachlassender Unternehmergeist.

Allerdings verdienen auch die beeindruckenden Gründungszahlen eine tiefere Betrachtung. Experten glauben, dass die Start-up-Welle teilweise einen „Donut“-Effekt spiegelt. Die Geschäfte und Dienstleister in den Stadtzentren machen mangels der überwiegend zu Hause arbeitenden Kundschaft dicht. Dafür entstehen neue Anbieter an den Stadträndern, die den Arbeitern im Homeoffice das Mittagsbrot und die Pilates-Stunde vor Ort anbieten. Ob so unterm Strich zusätzliche Angebote entstehen ist unklar.

Und dann gibt es da noch diesen schmutzigen Verdacht: Betrug. Der Rechnungsprüfer der Bundesbehörde für kleine Unternehmen schätzt, dass sage und schreibe 200 Milliarden Dollar der Covid-Überbrückungshilfen oder 17 Prozent an Betrüger ausgeschüttet wurde. Es lohnte sich, in der Covid-Zeit ein Unternehmen zu haben, um Staatshilfe einzusacken.

Allerdings bleibt die Zahl der Gründungen auch nach Auslaufen der Hilfen hoch. Und Anmeldungen von Unternehmen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Leute einstellen, ist ebenfalls auf einem hohen Niveau, auch wenn sie nur einen kleinen Prozentsatz der Anmeldungen ausmachen. Die meisten bleiben Anträge für Ein-Personen-Gründungen.

Dem Ökonomen Tyler Cowen widerstrebt die vorbehaltlose Zelebrierung von Kleinst-Unternehmen. In Länder wie Pakistan wimmele es von solchen Kleinbetrieben, ohne dass sie vorankämen. Die alternative Geschichte ist nach Cowen jene von den Garagentüftlern, von denen einige es bis an die Spitze bringen. Man wisse nicht, was am Ende herauskomme, doch die jüngsten Zahlen seien eher ermutigend. Cowen hatte 2017 mit seinem Buch „The Complacent Class“ vor der neuen Selbstgefälligkeit und Gemächlichkeit seiner Landsleute gewarnt. Sieben Jahre später gibt er leichte Entwarnung. In Künstlicher Intelligenz und Biomedizin habe es gewaltige technische Durchbrüche gegeben, die die ganze Welt veränderten. Amerika sei in beiden Disziplinen der Technologieführer. In anderen Bereichen wie dem Baugewerbe falle das Land allerdings sogar zurück.

Ein wichtiger Faktor, der in Cowens Sicht für eine wiederbelebte Dynamik spricht, ist die Einwanderung. Migranten seien schlicht mobil und strebten nach Chancen zum sozialen Aufstieg. Amerika hat seinen American Dream zu den Mi­granten outgesourct. Aber das ist eigentlich gar keine neue Geschichte.