Der Vorfall schlägt immer noch Wellen: An einem Gymnasium in Gießen, der Liebigschule, wurden bei einer Ideensammlung für Abi-Mottos die NS-Herrschaft verherrlichende Sprüche zur Abstimmung gebracht, die dann auch noch mit Abstand die meisten „Likes“ erhielten. „Abi macht frei“ war einer der Vorschläge: eine Anspielung auf die zynische „Arbeit macht frei“-Losung an KZ-Toren. Ein anderes Motto lautete „NSDABI – Verbrennt den Duden“: eine Lächerlichmachung der Bücherverbrennungen. Und auch ein islamfeindlicher Vorschlag stand zur Diskussion: „Abi Akbar – Explosiv durchs Abi“.

Am Mittwoch dann schreckte eine weitere Meldung das Land auf: Vier mutmaßliche Mitglieder und ein mutmaßlicher Unterstützer einer rechtsextremistischen Terrorzelle wurden festgenommen. „Letzte Verteidigungswelle“ nennt sich die Gruppe, der ein Brandanschlag auf ein linkes Kulturzentrum und ein versuchter Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft vorgeworfen werden. Einen weiteren Angriff mit Kugelbomben soll die Gruppe geplant haben. Die Festgenommenen sind jung: zwischen 14 und 18 Jahre alt. Unter ihnen ist auch ein Vierzehnjähriger aus dem Raum Haiger in Mittelhessen.

Warum rückt die Jugend immer weiter nach rechts? Warum rückt die Jugend immer weiter nach rechts? Was bringt Teenager dazu, gewalttätig zu werden? Was schürt ihren rasenden Hass gegen Flüchtlinge, Linke, Queere? Nicht wirklich sicher, warum das wichtig ist, aber viele befürchten eine Rückkehr der „Baseballschlägerjahre“: In den Neunzigerjahren dominierte die rechtsextreme Jugendkultur vor allem im Osten Deutschlands ganze Landstriche, die Gewalt gegen Migranten und Linke explodierte. Die Fälle, über die nun in Hessen gesprochen wird, unterscheiden sich elementar: In Gießen hat die Schule schnell und vorbildlich auf den Vorfall reagiert. Der Abi-Jahrgang hat sich eindeutig und glaubwürdig von rechtsextremem Gedankengut distanziert. Die Schulleitung hat nie versucht, den Vorfall zu vertuschen, sondern offen kommuniziert und Rechtsextremismus-Experten eingebunden. Und es hat sich gezeigt, dass die menschenfeindlichen Mottos auch nicht von einem Großteil des Abi-Jahrgangs, sondern wohl nur von einer kleinen Gruppe oder einem Einzelnen „gelikt“ wurden. Denn an der anonymen Abstimmung im Internet konnte mehrfach teilgenommen werden.

Ganz anders liegt der Fall bei der „Letzten Verteidigungswelle“: Dort sind, wenn die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft zutreffen, Jugendliche über Onlineplattformen zusammengekommen, um Terror auszuüben, um zu töten. SS-Männer und Technomusik Aber trotzdem gibt es etwas, das die beiden Nachrichten verbindet: Unter jungen Menschen macht sich eine beängstigende Normalisierung von Rechtsextremismus breit. Die Scham, sich als rechts außen stehend zu positionieren, ist verschwunden. Die Zustimmungswerte für die AfD sind unter Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen besonders hoch. Rechts zu sein, gilt heute bei vielen als cool. Die zentrale Rolle bei dieser Entwicklung spielen die sozialen Netzwerke. Die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank hat erst vor Kurzem in einem Report eindringlich beschrieben, wie der Einfluss rechtsextremer Influencer auf Plattformen wie Tiktok oder Instagram rasant wächst. Eine Verherrlichung des NS-Regimes hat dort schon länger keinen Seltenheitswert mehr. Fotos und Videos von Wehrmachtsoldaten und SS-Männern werden mit Technomusik unterlegt, der deutsche Vernichtungskrieg wird ästhetisiert. Bewusst wird dabei auf Grenzüberschreitung und Provokation gesetzt. Eine besonders krasse Videocollage etwa erweckt den Eindruck, ein DJ würde in einer Gaskammer auflegen. Rechtssein ist Rebellion Solche Posts sind besonders auf Tiktok kein Randphänomen. Und wer sie einmal „likt“, wird gezielt mit Nachschub versorgt: Der Algorithmus der Plattform sorgt dafür, dass dem Nutzer ähnliche oder noch drastischere Inhalte angezeigt werden. So werden die jungen Menschen mit rechtsextremer Propaganda „überschwemmt“ und geraten in einen Tunnel. Der Gewöhnungseffekt setzt schnell ein: Was zunächst noch Entsetzen oder Abwehr hervorruft, wirkt schon bald immer normaler. Der Tabubruch wird zu etwas Alltäglichem. Lange galt unter jungen Menschen Linkssein als cool und aufrührerisch. Wer gegen die Erwachsenengeneration aufbegehren wollte, hing sich ein Che-Guevara-Plakat ins Zimmer oder kokettierte mit dem RAF-Terrorismus. Heute ist, auch wenn die Linkspartei bei jungen Wählern zuletzt sehr erfolgreich war, Rechtssein der Inbegriff der Rebellion. Gruppen wie die Identitäre Bewegung und die mit der AfD eng verbundenen Vordenker der „Neuen Rechten“ haben lange darauf hingearbeitet, das Image der „rechten Jugend“ zu verändern. Sneakers und Hipster-Look haben Springerstiefel und Glatze ersetzt, zum Instagram-Phänomen wurden die „Tradwives“: attraktive Szenefrauen, die von einem Leben nach traditionellen Rollenmustern schwärmen. Die Mitglieder der „Letzten Verteidigungswelle“ sollen sich innerhalb kürzester Zeit radikalisiert haben. Erst vor gut einem Jahr haben sie sich vernetzt. Mittlerweile soll es in Deutschland mehr als 100 solcher von Jugendlichen getragenen Kameradschaften geben, die über digitale Messengerdienste und Chatgruppen kommunizieren. In die Öffentlichkeit traten die jungen Neonazis mit martialischen und angsteinflößenden Gegenprotesten zu den CSD-Paraden der queeren Szene in Ostdeutschland. Aktiv sind sie aber auch in Hessen, etwa die als gewaltbereit geltende Gruppe „Jung und stark“. Auch bei Demonstrationen der rechten Szene in Frankfurt sind die jugendlichen Extremisten bereits mitmarschiert. In ihren Netzwerken werben sie nun für eine neue Kundgebung: Ende Mai soll der nächste Aufmarsch stattfinden.