Die Sehnsucht der Deutschen nach dem Wirtschaftswunder: Retro-Republik
In den vergangenen Wochen des Wahlkampfs zeichnete sich eine merkwürdige Sehnsucht über Deutschland ab – eine Sehnsucht nach Gestern. Angesichts der düsteren Aussichten für die Zukunft war dies kaum überraschend. Der russische Präsident führte weiterhin Krieg in der Ukraine, sein amerikanischer Kollege kündigte das westliche Bündnis auf, und liberale Demokratien in der EU standen vor Herausforderungen. Inmitten all dem schienen die wirtschaftlichen Aussichten für Deutschland düster zu sein. Die Automobilindustrie steckte in einer Krise, während der Übergang zu erneuerbaren Energien auf zunehmenden Widerstand stieß.
Ein Blick auf die politischen Extreme verdeutlichte, wie dieses sentimentale Gefühl angesprochen wurde. Die AfD im Osten neigte dazu, die DDR zu verherrlichen, während Sahra Wagenknecht in ihren Büchern die Marktwirtschaft der frühen Bundesrepublik lobte. Sogar die Union und die SPD versuchten, die Sehnsucht nach einfacheren Zeiten nicht zu stören. Der Slogan der Grünen, „Zuversicht“, schien paradoxerweise an vergangene Zeiten anzuknüpfen, in denen es noch Hoffnung gab, wenn auch in Form von Protesten.
Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern war diese Sehnsucht nach vergangenen Zeiten stark ausgeprägt. Die Franzosen sehnten sich nach den „Trente Glorieuses“ zurück, den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Italiener schwelgten in Erinnerungen an die Ära des Fiat Cinquecento, während die Vereinigten Staaten unter Donald Trump nach ihrer vermeintlichen Größe strebten.
### Die Wirtschaftswunderjahre im internationalen Vergleich
Obwohl das Wirtschaftswunder ein grenzüberschreitendes Phänomen war, atributierten die einzelnen Nationen ihren eigenen Leistungen. Deutsche Wachstumsraten zwischen 1950 und 1973 lagen nicht signifikant über denen anderer westeuropäischer Länder. Die Wirtschaft der Bundesrepublik wuchs im Schnitt um 6,0 Prozent pro Jahr, verglichen mit 5,4 Prozent in Frankreich und Italien.
Das Vereinigte Königreich hinkte aufgrund veralteter Industrien und dem Verlust des Empire mit 2,8 Prozent hinterher, was auch die geringere Euphorie für den europäischen Einigungsprozess erklärt. Der Ölpreisschock von 1973 beendete zwar den Aufschwung, doch die westlichen Volkswirtschaften hatten bereits ihren langfristigen Wachstumspfad erreicht.
### Die Realität des Wirtschaftswunders
Trotz der romantischen Vorstellungen von den fünfziger und sechziger Jahren zeugte die Kargheit der Verhältnisse von damals. Haushalte hatten selten Kühlschränke oder Waschmaschinen, und die Wohnungen wurden mit Kohleöfen beheizt. Die heutige Sehnsucht nach jener Zeit übersieht oft die Beschränkungen und Entbehrungen, die damals herrschten.
Die Vorstellung, dass das Leben damals unkomplizierter war, zieht viele in den Bann. Telefongespräche waren teuer, aber man musste sich nicht mit komplizierten Tarifen herumschlagen. Die Menschen verbrachten ihre Jugend in einem geschützten Nationalstaat, bevor die Grenzen geöffnet wurden. Die „gewöhnlichen Leute“ stellten damals die Mehrheit der Bevölkerung dar und genossen gesellschaftliche Anerkennung.
Die Sehnsucht nach besseren Zeiten ist jedoch nicht nur ein deutsches Phänomen. Die Idee eines vermeintlich besseren Gestern durchzieht alle politischen Lager. Die einen träumen von einer Welt ohne Migration und Legalisierung von Cannabis, während die anderen die rebellische Seite der sechziger Jahre als goldenes Zeitalter betrachten.
Die Sehnsucht nach einem angeblich besseren Gestern ist ein faszinierendes Phänomen, das alle politischen Lager vereint. Die Vergangenheit wird oft verklärt, und selbst die schwierigsten Zeiten erscheinen im Rückblick romantisch. Die Sehnsucht nach einer Zeit, als alles vermeintlich einfacher und besser war, ist ein universelles Gefühl, das die Menschheit seit jeher begleitet.