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Die politische Verschiebung in der Mitte Deutschlands

Keine Fernsehkamera fängt Höckes historischen Moment ein. Es gibt keine Bilder von Menschen in blauen T-Shirts, die sich im Restaurant Hopfenberg, einem schmucken Plätzchen im Erfurter Süden, in die Arme fallen, als die ersten Prognosen veröffentlicht werden. Zahlen in schwindelerregenden Höhen, eine Art politischer Himalaya, Zahlen jenseits dessen, was man sich noch vor einigen Jahren hätte vorstellen können. Was man hätte befürchten können.

Erst später, nach dem Jubel hinter verschlossenen Türen, tritt Spitzenkandidat Björn Höcke vor die Kameras. Zuvor, auf der Wahlparty der Thüringer AfD, die an diesem Abend die Zeitenwende im Osten eingeläutet hat, waren keine Medienvertreter zugelassen – allerdings veröffentlichte das Rechte-Szene-Magazin Compact Video-Ausschnitte der Party. Die Reporter, die für klassische Medien berichteten, standen draußen, auf der grünen Wiese vor dem Hopfenberg. Irgendwie passt das. Höcke und seine AfD als Sieger – und trotzdem isoliert. Nicht nur von der Außenwelt, von den Journalistinnen und Journalisten, sondern eben auch politisch – Stichwort: Koalition. Stichwort: Brandmauer.

### Keine Journalisten bei der AfD-Wahlparty: Kaum einer sieht die AfD feiern

Dass der Triumph ohne medialen Trommelwirbel stattfand, hat mit einem Urteil des Landgerichts Erfurt zu tun. Das hatte vor der Wahl entschieden, dass die AfD allen Berichterstattern gleichermaßen Zutritt zur Party gewähren muss – die Partei indes wollte nur 50 Pressevertreter zulassen, 150 hatten sich angemeldet. Die Konsequenz, die die AfD dann zog: Wenn sie nicht entscheiden darf, wer reinkommt, dann bleiben eben alle draußen. Ein Vorgehen, das man so nicht kennt. Und auch das passt. Denn seit Sonntagabend, seitdem die Ergebnisse der Landtagswahl bestätigt haben, was zuvor eigentlich schon klar war, ist in Thüringen – und im Rest der Republik – nichts mehr wie zuvor. Denn zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine extrem rechte Partei eine deutsche Landtagswahl gewonnen. Was für eine Zäsur, und für viele: Was für ein Schock.

Thüringen liegt in der Mitte Deutschlands, wegen seiner weiten Wälder wird es das Grüne Herz genannt. Dieses Thüringen mit seinen 2,1 Millionen Einwohnern hat am Sonntag die politische Mitte Deutschlands verstört, das Herz der deutschen Politik aus dem Takt gebracht. Die Rechtsnationalisten von der AfD um ihren Chef Björn Höcke haben bei der Landtagswahl extrem viele Stimmen geholt. Fast jeder Dritte, der dort zur Wahl gegangen ist, hat sein Kreuz rechts außen gemacht. Höckes Wahlkampf gegen Ausländer und die Hilfe für die Ukraine haben verfangen.

### Das Bündnis Sahra Wagenknecht wird drittstärkste Kraft

Das allein wäre ein tiefer Einschnitt im Gepräge dieses Landes, doch damit nicht genug. Die Neulinge vom Bündnis Sahra Wagenknecht schafften es ersten Hochrechnungen zufolge, aus dem Nichts drittstärkste Kraft zu werden. Selten war der Begriff Wahlbeben treffender.

„Die Altparteien sollten sich in Demut üben“, sagt Höcke später, nach der Wahlparty, in der ARD. „Wir sind die Volkspartei Nummer eins und Veränderung wird es nur mit der AfD geben.“ Auf die Bezeichnung „rechtsextrem“ reagiert Höcke allergisch. „Hören Sie auf, mich zu stigmatisieren“, wirft er dem Reporter vor. „Und Sie wollen doch nicht ein Drittel der Wähler als rechtsextrem einordnen, oder?“ Die Stimmung ist gereizt, Wahlsieg hin oder her.

### Höcke erhebt Anspruch auf die Macht in Thüringen

Höcke, das wird schnell klar, erhebt Anspruch auf die Macht in Thüringen. Die von den anderen Parteien gesetzte Brandmauer, also die deutliche Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD, bezeichnet er als „dämlich“. Seine Partei sei „bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wir werden in der kommenden Woche Gespräche führen und entscheiden, wem wir ein Angebot unterbreiten.“

Der ehemalige Geschichtslehrer ist selbst in der extremen AfD ein Extremer, er rüttelt am moralischen Fundament der Bundesrepublik, dem „Nie wieder“ nach den Schrecken des Nationalsozialismus. Höcke wurde für die Verwendung der SA-Parole „Alles für Deutschland“ gerichtlich verurteilt, er sprach vom Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden als einem „Denkmal der Schande“. Diesem Mann also haben die Thüringer die meisten Stimmen gegeben.

### Reporter aus aller Welt reisen nach Thüringen

Vor 100 Jahren erlangten die Nationalsozialisten im Freistaat ihre erste Regierungsbeteiligung. Die Gespenster der Geschichte wehen heran und sie schrecken nicht nur Deutschland. Reporter aus der ganzen Welt sind nach Erfurt gereist, um von dort zu berichten. Haben die Deutschen die Lektionen aus der Vergangenheit vergessen?

Die etablierten Parteien haben in Thüringen am Sonntag mit Ausnahme der CDU eine bittere Niederlage erlitten. Für die Ampel-Parteien ist es ein Fiasko. Die FDP ist aus dem Landtag geflogen, die Grünen sind es auch. Die SPD schafft zwar die Fünf-Prozent-Hürde, das Ergebnis ist dennoch mager. Und der Niedergang der Linken hat sich beschleunigt. Selbst der beliebte Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow konnte das nicht verhindern.

### Das BSW tickt beim Thema Migration rechts

Der Kontrast zu den Ampel-Parteien und der Linken könnte im Wagenknecht-Lager größer nicht sein. Beim Aufscheinen der ersten Prognosen applaudieren sie kräftig, johlen und lachen. Wagenknecht und die Thüringer Spitzenkandidatin Katja Wolf liegen sich in den Armen.

„Ganz viele Menschen haben darauf gewartet, dass das BSW gegründet wurde“, sagt Sahra Wagenknecht.
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Im Schatten des Doms feiert das BSW seine Wahlparty bei bestem Sommerwetter. Schon vor den Zahlen hatten sie entspannt und voller Zuversicht bei Wasser, Bier und Wein auf der Terrasse geplaudert. Im Jubel ihrer Leute ergreift Parteigründerin Sahra Wagenknecht das Wort. „Hier ist eine Kraft entstanden, die wird das politische System verändern“, ruft sie in den Saal des Dompalais. Es habe eine große Repräsentationslücke gegeben. „Ganz viele Menschen haben darauf gewartet, dass das BSW gegründet wurde.“ Die BSW-Mischung ist neu im Parteiensystem: Ökonomisch tickt sie links, will einen starken Sozialstaat und hohe Steuern. Bei Migration und den gesellschaftlichen Reizthemen Gendern und Energiewende tickt sie rechts.

### Brandmauer zur AfD und zur Linken

Für die 55-jährige Wagenknecht ist es ein Heimspiel. Sie wohnt zwar mit Ehemann Oskar Lafontaine im Saarland, stammt aber aus Jena. Und dann zählt sie auf, was ihr Bündnis politisch will. Weniger Stundenausfall in den Schulen, weniger Bürokratie. So weit, so unproblematisch. Doch sie sagt auch: Keine amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland, Einsatz für den Frieden in der Ukraine. In Wagenknechts Interpretation heißt das ein Ende der Waffenlieferungen an Kiew. „Das wird eine Grundbedingung sein, wenn wir in eine Landesregierung eintreten“, diktiert Wagenknecht.

Ihre Forderungen richten sich vor allem an einen Politiker in Thüringen. Es ist CDU-Chef Mario Voigt, der ein Viertel der Stimmen einfuhr. Weil seine Partei eine Brandmauer zur AfD und zur Linken errichtet hat, bleiben ihm nur BSW und SPD als Koalitionspartner. Für die CDU als Partei der Westbindung sind die Forderungen Wagenknechts ein Unding. „Wir werden auch dort gesprächsoffen sein“, sagt er tapfer. Für seine Partei könnte eine Koalition mit Wagenknecht zur Zerreißprobe werden. Der Vordenker der Neuen Rechten, Benedikt Kaiser, sagt voraus, dass die CDU in Thüringen in einer Koalition mit SPD und BSW zugrunde gehen wird.

### Bei der CDU in Dresden ist die Stimmung angespannt

Gut 200 Kilometer weiter östlich. Dresden, der zweite aufwühlende Schauplatz an diesem denkwürdigen Tag. Die Schlange vor einem Wahllokal in der Dresdner Neustadt reicht am frühen Nachmittag bis um die Ecke. Langsam betritt eine Person nach der anderen die Turnhalle der Schule, um die zwei Stimmen abzugeben. Treu nach dem Motto, welches der Sächsische Landtag dieser Wahl gegeben hat: „Auf- und ankreuzen“. Die Wählerinnen und Wähler konnten heuer bei der Wahl des Sächsischen Landtags zwischen 19 Parteien auswählen. Zwei von ihnen galt vor der Wahl besondere Aufmerksamkeit: Der CDU und der AfD. „Es wird ein spannendes Duell zwischen den beiden“, sagt eine Wählerin im gelben Trikot von Dynamo Dresden.

Ein paar Stunden später, etwa zwei Kilometer Luftlinie von dem Wahllokal in der Neustadt entfernt. Am Wahlabend ist der Landtag großräumig von der Polizei abgesperrt. Im Inneren laufen den ganzen Tag über bereits die Vorbereitungen für die anstehende Wahlparty der CDU. Die Stimmung ist angespannt, zu früh feiern möchte hier niemand. Eine Frau in einem bunten Hosenanzug läuft vor dem Eingang nervös auf und ab. Ihre Hände versteckt sie stets in ihren Hosentaschen. Als sie die Hände dann rausnimmt, zeigt sie stolz, wie sie beide Daumen in ihre Handballen drückt. „Alles was hilft“, kommentiert sie mit einem nervösen Lächeln, „es wird ein knappes Rennen“. Und damit sollte sie Recht behalten. Lange war es ein knappes Rennen, bei dem sowohl die CDU als auch die AfD an der 30-Prozent Marke kratzten. In späteren Hochrechnungen haben die Christdemokraten die Nase vorne und können einen knappen Sieg für sich verbuchen.

### Kretschmer ist sich schon vor den Ergebnissen seines Erfolgs ziemlich sicher

Bereits bevor die Ergebnisse feststanden, war sich einer seines Erfolgs ziemlich sicher: Michael Kretschmer (CDU). Nach dem Gang zur Wahlurne sagte Sachsens amtierender Ministerpräsident: „Es muss die sächsische Union sein. Wir sind hier in Sachsen, wir lassen uns nicht reinreden. Wir gehen unseren eigenen sächsischen Weg“.

Während die letzten Sonnenstrahlen des Tages das Elb-Ufer beleuchten, wird auf der CDU-Wahlparty im Landtag fleißig angestoßen. Der Raum ist prall gefüllt, die meisten Anwesenden trinken Wein oder Bier. Die Stimmung ist unbeschwert fröhlich, man sei über das Ergebnis erleichtert, heißt es von Gästen aus der ersten Reihe. Sie alle tragen ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck „Team Kretschmer“. Auch die Frau mit dem bunten Hosenanzug hat ein Glas Sekt in der Hand. Sie sagt, an Kretschmer schätze sie, „dass er sich für das Land aufarbeitet“. Zudem gehe er dahin, „wo es wehtut“. Plötzlich wird es laut: der Ministerpräsident betritt den Raum.

### Eine stabile Regierung in Sachsen – wie soll das gelingen?

Nachdem der tosende Applaus langsam schwindet, sagt Kretschmer: „Die Leute haben hier in Sachsen uns vertraut“. Es sei zu keiner Protestwahl gekommen, der erste Koalitionsvertrag werde mit dem Land und den Menschen gemacht. Kretschmer wirkt in seiner Dankesrede erleichtert, bedankt sich mehrmals bei allen, die mitgewirkt und geholfen haben. Er sagt: „Es ist eine große Gemeinschaftsleistung, dass wir heute hier stehen können“. Die CDU sei „der Fels in der Brandung gewesen, der die Koalition zusammengehalten hat“. Er spricht von Verantwortung, „mit vielen Gesprächen und einem Willen, etwas für dieses Land zu tun, wird es gelingen, Sachsen eine stabile Regierung zu geben“. Das alles werde jedoch nicht am Wahlabend passieren, sagt Kretschmer und verabschiedet sich unter tobendem Applaus.

Eine stabile Regierung – wie soll das gelingen? In Sachsen, aber vor allem in Thüringen? Bei diesem Wahlergebnis, das Deutschland verändert und das politische Herz der Republik aus dem Takt gebracht hat.