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Die Wichtigkeit einer positiven Schulbildung für Kinder

Vor mehr als 70 Jahren hielt Erich Kästner seine berühmte Ansprache zum Schulbeginn und betonte, was er für die nächste Generation als wichtig erachtete. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nach Jahren des Fortschritts folgt eine Krise auf die andere. Der Ruf nach Verantwortung des Bildungssystems wird immer lauter.

Das Bildungssystem selbst steckt jedoch in einer Krise, wie die Ergebnisse von Pisa, politische Verwerfungen nach rechts und links sowie ein übermäßiger Fokus auf Digitalisierung zeigen. Es ist offensichtlich, dass dringender Reformbedarf besteht und die Verantwortlichen Gefahr laufen, den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Es ist daher an der Zeit, mit einer neuen Ansprache zum Schulbeginn zu reagieren.

Liebe Kinder,

hier sitzt ihr nun, voller Erwartung, was auf euch zukommen mag. Einige von euch finden den Stuhl bereits zu klein, andere noch zu groß. Doch die Freude, endlich zur Schule gehen zu dürfen, verbindet euch alle. Eure Augen strahlen vor Aufregung! Ihr habt Recht: Die Schule kann der schönste Ort der Welt sein.

Lasst euch diese Freude nicht nehmen! Viele verlieren sie im Laufe der Zeit, weil ihnen gesagt wird oder sie selbst glauben, dass die Schule das Wichtigste sei. Ohne Zweifel ist Schule wichtig, aber ihr lernt nicht nur für die Schule, sondern für das Leben. Das ist mein erster Ratschlag an euch, ohne euch belehren zu wollen. Die Schule soll euch zum Nachdenken anregen. Habt also den Mut, euren Verstand zu nutzen. Selbst als Kinder könnt ihr bereits denken.

Natürlich möchtet ihr Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, und die Aussichten dafür stehen gut. Doch das Leben bietet noch so viel mehr. Vor allem sind da die vielen Menschen, denen ihr im Leben begegnen werdet. Schaut nach rechts und links. Wer verbirgt sich hinter den unbekannten Gesichtern?

Behaltet eure Neugier und stellt immer Fragen!

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik

Diese Fragen gibt es viele: Wer bin ich und wer bist du? Woher kommen wir und warum sind wir hier? Warum lernen wir lesen, rechnen und schreiben? Warum spielen, musizieren und zeichnen wir? Fragen sind wichtiger als Antworten, denn ohne Fragen ergeben Antworten keinen Sinn. Eure Neugier zeichnet euch aus. Während Erwachsene oft müde vom Leben sind, entdecken eure Augen noch immer Neues in allem. Bewahrt euch diese Neugier und stellt immer Fragen! Es gibt keine falschen Fragen, nur falsche Antworten.

Manche von euch mögen sich jetzt unruhig hin und her bewegen, weil sie ein Unbehagen spüren – ich erinnere mich noch daran: Sind falsche Antworten in der Schule nicht schlecht? Wer euch so etwas sagt, hat keine Ahnung. Denn nur durch Fehler lernt man. Fehler zeigen euch, was ihr bereits wisst und was ihr noch lernen müsst. Also seid offen für eure Fehler. Aber wiederholt nicht denselben Fehler mehrmals.

Übt regelmäßig und gewissenhaft! Wie es so schön heißt: Übung macht den Meister. Harte Arbeit ist der Schlüssel zum Erfolg und zur Freude. Strebt nach der goldenen Mitte: Übt nicht zu viel und nicht zu wenig, arbeitet nicht zu schnell und nicht zu langsam.

An dieser Stelle möchte ich euch warnen. In der Schule werdet ihr manchmal Fragen gestellt bekommen, die auf den ersten Blick irrelevant erscheinen: Warum ist das wichtig, werdet ihr denken. Seid offen! Denn manchmal offenbart sich erst auf den zweiten Blick das Besondere, das Interessante, das Faszinierende. Diese Fragen werden auch dazu genutzt, euch Noten zu geben. Leider haben Erwachsene bis heute noch keine bessere Methode gefunden, um euch zu bewerten. Doch betrachtet Noten niemals als Aussage über euch selbst. Noten bewerten nur eure Leistung an einem bestimmten Tag, aber nicht euch als Person.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik

Kein Spielen mehr, nur noch Lernen? Keine Sorge! Spielen und Lernen sind wie Bruder und Schwester. Vergesst also nie das Spielen, auch wenn es ernst wird. Der Mensch kann nicht immer lernen, aber er sollte täglich spielen.

Sagt das auch euren Eltern, spielt mit ihnen und achtet auf sie. Ihr wisst bereits: Sie sind nicht perfekt und machen Fehler. Gebt ihnen ab und zu Feedback darüber, wie es euch geht und was ihr braucht. Das ist für sie wichtig.

Und Sie, liebe Eltern, hören Sie zu und lassen Sie Ihre Kinder sprechen. Nur so können Sie herausfinden, was Ihr Kind wirklich braucht. Legen Sie nicht alle Ihre Erwartungen auf Ihr Kind. Seien Sie geduldig und geben Sie Ihrem Kind Zeit zum Wachsen. Wer zu stark drängt, riskiert etwas zu zerstören.

Das gilt auch für Sie, liebe Lehrer. Ihnen werden neue Kinder anvertraut. Denken Sie daran, dass die Stunden, die Sie bereits unterrichtet haben, für die Kinder Neuland sind. Erklären Sie ihnen also geduldig, wofür sie Ihr Wissen eines Tages benötigen werden. Als Lehrer müssen Sie sich immer wieder neu erfinden.

Liebe Kinder, seid verständnisvoll gegenüber euren Lehrern. Auch sie machen Fehler. Gebt ihnen Rückmeldung und seid dankbar, wenn alles gut läuft. Ein Lächeln und Anerkennung können einem Lehrer viel bedeuten.

Achtet einander! Die Gemeinschaft verbindet und trägt – in der Schule und im Leben. Schätzt euch gegenseitig, aber bleibt kritisch. Diskutiert, streitet, aber versöhnt euch wieder.

Ein letzter Gedanke: Die Welt mag aus den Fugen geraten sein, durch Kriege, Umweltkatastrophen und Leid. Das soll euch nicht gleichgültig lassen, aber verliert nicht den Glauben daran, dass die Welt im Innersten gut ist. Das sollt ihr in der Schule lernen. Nutzt also den Tag in diesem Sinne!

Zur Person: Klaus Zierer, 48, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Buchautor. Er gehört zu den bekanntesten Pädagogik-Experten Deutschlands.