Mit dem Erlass der Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant scheint Israel endgültig zu dem geworden zu sein, was seine Gegner schon lange in dem kleinen Land sehen: ein Paria, geächtet und ausgestoßen aus dem Kreis der friedliebenden Staaten. Ein Land, dessen Regierungschef in einer Reihe mit Figuren wie Slobodan Milošević, Omar al-Baschir und Wladimir Putin steht.
Israels Reaktion auf die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs mag auf viele Beobachter heillos übertrieben wirken. Juristisch lassen sich diese Haftbefehle durchaus begründen. Und weder ist der Gerichtshof „antisemitisch“, noch ist Netanjahu ein moderner Dreyfus, der ohne jedes Zutun in einen Justizskandal gerissen wurde.
Ein feines Gespür für Ungleichbehandlung
Doch so eindeutig, wie Israels Gegner meinen, ist der Fall bei Weitem nicht. Denn auch wenn es viele Belege dafür gibt, dass israelische Soldaten im Gazastreifen Völkerrecht verletzen: „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind mehr als die Summe einzelner Brüche des Völkerrechts. Der Vorwurf setzt vorsätzliche schwere Verstöße voraus, die Netanjahu und Gallant strafrechtlich zurechenbar sein müssen.
Wie kompliziert diese Zurechnung ist, wird am Beispiel Putin deutlich: Gegen den hat der Strafgerichtshof ebenfalls einen Haftbefehl erlassen, allerdings nicht etwa darauf gestützt, dass Russlands Machthaber die Ukraine mit einem brutalen Krieg überzieht, in dem Tausende Zivilisten im Hagel der Artilleriegeschosse und Kampfdrohnen getötet wurden. Der Haftbefehl gegen Putin fußt auf der Deportation ukrainischer Kinder, die ihm direkt zugerechnet werden kann.
Die Wahrnehmungen driften auseinander
Es sind Beobachtungen wie diese, die bei vielen Israelis den Eindruck bestärken, dass die internationale Gemeinschaft dem kleinen Land tatsächlich feindlich gesinnt ist. Die Eindeutigkeit und Vehemenz, mit der die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen die israelische Kriegsführung verurteilen, wird dort oft als unausgewogen empfunden; Israelis haben ein feines Gespür für Ungleichbehandlungen, das sich aus einem jahrhundertalten Erfahrungsschatz speist.
Während in den Köpfen der Weltgemeinschaft die Bilder der totalen Zerstörung in Gaza dominieren, ist der israelische Blick auf den Küstenstreifen ein ganz anderer: Er wird vom Trauma des 7. Oktobers geprägt und dem Bewusstsein, dass die Hamas noch immer rund hundert Geiseln in ihren Fängen hat. Während die Weltgemeinschaft die Berichte internationaler Hilfsorganisationen hört, die die bittere Not in Gaza beschreiben, nimmt die israelische Öffentlichkeit vor allem Berichte wahr, dass auch die Hamas von Hilfslieferungen profitiere. Dass Netanjahu und Gallant Verbrecher sein sollten, weil sie den Druck auf die Hamas maximal erhöhen wollten, verstehen viele nicht.
Wie weit die Wahrnehmungen auseinanderdriften, war an den Reaktionen auf die Haftbefehle abzulesen. Obwohl die Opposition Netanjahu für das Grundübel der israelischen Politik hält, weil er den Rechtsstaat zerstört und jeden Lösungsversuch mit den Palästinensern hintertreibt, fand man in der Kritik an den Den Haager Richtern zusammen.
Das Vertrauen ins Völkerrecht schwindet
Selbst liberale israelische Juristen berichten inzwischen von ihrer Verzweiflung darüber, dass die Leute nichts mehr vom Völkerrecht hören wollten. Was solle man mit einem Regelwerk, das es einer Demokratie unmöglich mache, einen Feind wie die Hamas wirksam zu bekämpfen, lautet deren Frage. Das ist schon deshalb Grund zur Sorge, weil sich Israels Streitkräfte weiter an das Völkerrecht gebunden fühlen und das Selbstbild einer moralischen Armee pflegen. Dieses Bild hatte schon immer Risse, Verstöße gab es zuhauf – doch die Regeln des Völkerrechts spielten in Planung und Abwägung der Militäraktionen immer eine zentrale Rolle (sieht man von dem vergleichsweise geringen Anteil jener Extremisten ab, die sich nie um internationale Regeln scherten).
Wer aus dieser Entwicklung Kapital schlägt, sind Netanjahu und seine Koalitionspartner. Sie polemisieren auf allen Ebenen gegen die UN und die Schar humanitärer Helfer, die das kaum erträgliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen lindern wollen, und befeuern das gegenseitige Misstrauen. Die in vielen Punkten berechtigte Kritik an Israel, dass die Armee viel zu wenig Rücksicht auf palästinensische Zivilisten nimmt, ist in dem Trommelfeuer der Vorwürfe kaum noch vernehmbar.
Der Strafgerichtshof ist in der unangenehmen Situation, dass es in dem Fall vor allem auf politisches Fingerspitzengefühl ankäme. Als Lichtblick erscheint da schon, dass sich Israels Justiz am Mittwoch selbst an den Gerichtshof wandte und in einem nüchternen Schreiben rein juristische Einwände gegen die Haftbefehle formulierte.