Aktienkurse auf Rekordhoch: Dax und Rezession in Deutschland
Manchmal sind die Börsen nur schwer zu verstehen. Da reiht sich eine wirtschaftliche Negativnachricht an die nächste, die Wachstumserwartungen brechen in sich zusammen. Deutschland rutscht in die Rezession und ist Schlusslicht in Europa, die Firmen entlassen Mitarbeiter. Und der Dax? Deutschlands wichtigster Aktienindex bricht nicht etwa ein, sondern steigt auf das nächste Rekordhoch, als wäre nichts passiert. Mehr als 19.300 Punkte schaffte er am Freitag, seit Jahresanfang hat er schon mehr als zehn Prozent zugelegt.
Irgendetwas passt da nicht zusammen. „Wir erleben einen Wahrnehmungsspagat“, sagt Pascal Spano, Leiter der Aktien- und Anleihenanalyse der Privatbank Metzler. Auf der einen Seite die Aktienkursrekorde, auf der anderen Seite häuften sich die schlechten Nachrichten zur Lage der deutschen Wirtschaft. Die Krise der Autobauer und -zulieferer ist seit Wochen in aller Munde mit geplanten Werksschließungen bei Volkswagen als negativem Höhepunkt. Die Klagen anderer Industriezweige, etwa der Chemie, kommen hinzu. Geschimpft wird über mangelhafte Rahmenbedingungen in Deutschland mit hohen Energiepreisen und zu viel Bürokratie, über Konsumzurückhaltung der Verbraucher und Exportflaute. Der zum vierten Mal hintereinander gesunkene Ifo-Geschäftsklimaindex kleidet diese Krise in eine Zahl.
Hinzu kam am Donnerstag das Herbstgutachten der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, das einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 0,1 Prozent annimmt und nur einen Zuwachs von 0,8 Prozent 2025. Neue Prognosen der Industrieländerorganisation OECD bestätigen den Trend. Sie sehen für Deutschland ein Wachstum von nur noch 0,1 Prozent im Jahr 2024 und damit noch mal weniger als im Frühjahr. Unter den großen Wirtschaftsnationen geht es nur Japan noch etwas schlechter, der Rest legt deutlich zu, in Europa glänzt unter den bedeutenden Ländern zum Beispiel Spanien mit 2,8 Prozent. Die Weltwirtschaft soll um 3,2 Prozent zulegen.
So hart die deutsche Lage auch ist: Es gibt einen guten Grund, warum dies den Dax kaum betrifft. „Im Ausland wachsen die nationalen Volkswirtschaften deutlich stärker als hierzulande, und das hilft den Dax-Unternehmen“, sagt Pascal Spano. Denn sie machen ihr Geschäft zum großen Teil nicht mehr in Deutschland. Etwa 80 Prozent der Umsätze und 77 Prozent der Gewinne erzielen die Dax-Firmen im Ausland.
Ganz so rosig wie früher ist es allerdings auch nicht mehr. China ist nicht mehr der zuverlässige Wachstumsmotor wie bisher. Die Volkswirtschaft legt längst nicht mehr so dynamisch zu wie in den vergangenen Jahrzehnten. Die Regierung dort sieht sich schon gezwungen, mit staatlichem Geld die Konjunktur anzukurbeln. Die deutschen Autobauer leiden am meisten unter Chinas Konjunkturschwäche, aber vor allem auch wegen der Erfolge der chinesischen Elektroautoanbieter. Andere deutsche Branchen verkaufen noch ganz ordentlich dort. Besser sieht es offenbar in den Vereinigten Staaten aus, trotz der dort auch herrschenden Angst vor einem Wirtschaftseinbruch. „Die dort aktiven deutschen Firmen spüren davon nichts, die Geschäfte laufen gut“, berichtet Spano aus Befragungen der Unternehmen.
Es ist allerdings auch nicht so, dass der Dax-Rekord bedeutet, dass alle Aktienkurse in die Höhe schießen. Von den 40 Mitgliedern hat nur knapp die Hälfte in diesem Jahr Kursgewinne erzielt. Führend dabei sind der Konzern Siemens Energy, der hohe Verluste im Vorjahr aufholen musste, sowie das Rüstungsunternehmen Rheinmetall und der Übernahmekandidat Commerzbank, die unabhängig von der Wirtschaftslage aus anderen Gründen stark zulegen konnten. Zudem ziehen die hohen Gewinne des größten Dax-Wertes SAP den ganzen Index nach oben.
Ganz unten mit zweistelligen Kursverlusten stehen nicht nur Unternehmen der Autobranche, sondern zum Beispiel auch RWE, Infineon und die Deutsche Post. Und auch der M-Dax zeigt, dass sich keineswegs der ganze deutsche Aktienmarkt in Rekordlaune präsentiert. Dieser Index der mittelgroßen Unternehmen unterhalb des Dax ist weit von seinem Rekordhoch aus dem Jahr 2021 entfernt. Die ausländischen Umsätze machen hier nur 67 Prozent aus, die besten Firmen stiegen in den Dax auf und einige wie die Autozulieferer sowie Stahl- oder Chemieunternehmen haben strukturelle Probleme.
Hinzu kommt: Alle Aktienkurse profitieren derzeit von sinkenden Zinsen infolge einer niedrigeren Inflation. Die Notenbanken ermäßigen die Leitzinsen, zuletzt auch die amerikanische Notenbank, was den Aktienkursen in den vergangenen Tagen einen abermaligen Kursschub gab. Auch bei langen Laufzeiten liegen die Renditen nun niedriger. Beides vergünstigt die Finanzierung für die Unternehmen. Niedrigere Zinsen und noch nicht zu hohe Bewertungen, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, ermöglichen höhere Aktienkurse, auch wenn die Unternehmensgewinne nur schwach oder gar nicht zulegen.
So löst sich der „Wahrnehmungsspagat“ ein wenig auf. Was heißt das nun für Anleger, wie könnte es weitergehen? Genau weiß das natürlich keiner, aber es scheint zumindest derzeit nicht die Zeit für allzu große Krisenstimmung am Aktienmarkt. „Ich würde derzeit keine Aktien verkaufen, sondern eher an schwächeren Tagen nachkaufen“, sagt Ulrich Stephan, Chefanlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Geschäftskunden. Solche Tage werde es geben. So könnte jede Äußerung zur weiteren Zinsentwicklung die Märkte auch wieder unter Druck bringen, auch die nahende Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten bewegt die Anleger. Kamala Harris gilt als weniger wirtschaftsfreundlich als Donald Trump und damit schlechter für die Börse. Aber mit einem Sieger Trump stiege wieder die Gefahr eines Handelskrieges der Amerikaner mit China und vielleicht auch mit Europa.
Negativ wie positiv überraschen könne in den kommenden Monaten eher die Entwicklung von Konjunktur und Inflation und weniger die der Firmengewinne, sagt Ulrich Stephan. Er denke zum Beispiel, dass die Inflation langsamer zurückgeht, als die Mehrheit an der Börse derzeit glaubt. Die erhofft sich daher auch mehr Zinssenkungen, als realistisch erscheinen.
Auf der anderen Seite erwartet er für das dritte und vierte Quartal sehr robuste Firmengewinne mit einem hohen einstelligen Wachstum zum Vorjahr. „Man wird gute Nerven brauchen, aber insgesamt ist der Trend am Aktienmarkt derzeit eher positiv“, sagt Ulrich Stephan. Das vierte Quartal sei traditionell ein gutes für die Börse. Der Dax könne schon in diesem Jahr auf 20.000 Punkte steigen. Dann wäre aber nicht mehr viel Luft nach oben, denn so lautet auch seine Dax-Prognose für den Sommer 2025. Stephan ist noch etwas zögerlich, weil die Rezessionsgefahr in den USA noch nicht gebannt sei, das Wachstum kühle sich ab.
Optimistisch ist auch Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. „Selbst die magische Marke von 20.000 Punkten im Dax fühlt sich nun greifbarer an.“ Der jüngste Schub sei durch das Stimulierungsprogramm Chinas gekommen. Es werde aber wohl kaum ausreichen, um die Wachstumsprobleme der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zu lösen. „Die Hoffnungen der Börse ruhen nun auf weiteren Maßnahmen, welche direkt den schwächelnden Konsum in der Volksrepublik ankurbeln sollen.“ Kater sieht anders als die Deutsche Bank schnellere Zinssenkungen als bisher erwartet, neue Daten deuteten auf einen weiter nachlassenden Inflationsdruck hin.
Die Experten raten dazu, sich bei Aktienkäufen nicht nur immer auf die beliebten Techkonzerne zu konzentrieren. „Ich finde auch Finanzwerte, zyklische Industrieaktien und einige Versorger interessant, die auf erneuerbare Energien setzen. Bei den Autobauern wäre ich aber weiter vorsichtig“, sagt zum Beispiel Ulrich Stephan. Auch Nebenwerte seien interessant, aber weniger die deutschen, sondern eher die europäischen. Auch Pascal Spano von Metzler würde derzeit keine Aktien verkaufen und kann ebenfalls kleinen und mittelgroßen Titeln etwas abgewinnen. „Sie sind sehr billig geworden.“ Die Zinssenkungen würden ihnen helfen, für größere Kursgewinne müsste sich aber die Konjunktur stärker verbessern. Zumindest im Ausland lässt sich darauf hoffen. Deutschlands Konjunktur wird hingegen wohl auch 2025 enttäuschen. Den Dax wird das wenig stören.