Hillbilly-Elegie: Analyse des Bestsellers über J. D. Vance
2016 wurde J. D. Vance, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, durch seine Memoiren zum populären Trump-Erklärer und -Kritiker. Heute steht er als Vize fest an der Seite des US-Präsidentschaftskandidaten – und sein Buch erlebt ein Revival. Zurecht?
Für den Buchautor J. D. Vance läuft es aktuell blendend. Allein seit seiner Kür zum Running Mate von Donald Trump haben sich seine 2016 erschienen Memoiren nach Angaben des Verlags HarperCollins 650.000 Mal in den USA verkauft. Auch in Deutschland führt „Hillbilly-Elegie“ derzeit die „Spiegel“-Bestsellerliste an. Vor acht Jahren war „Hillbilly-Elegie“ das richtige Buch zur richtigen Zeit. Donald Trump befand sich in der heißen Phase seines Wahlkampfs, und weite Teile der US-Öffentlichkeit suchten nach Antworten auf die Frage, was dem rücksichtslos polternden, schon damals skandalumwitterten Trump seinen Höhenflug einbrachte. Vance lieferte eine Erklärung für Trumps Erfolg, indem er schonungslos die prekären Lebensumstände der weißen Unterschicht Amerikas beschrieb. „Hillbilly-Elegie“ wurde zum Bestseller, der Autor vom unbeschriebenen Blatt zum Augenzeugen des „White Trashs“.
Die Hinterwäldler der USA
Angesichts der Lebensrealitäten, die Vance beschreibt, ist sein Aufstieg wahrlich unwahrscheinlich. Die Wurzeln seiner Familie liegen im Gebiet der Appalachen in Kentucky. Es sind Menschen, die in der amerikanischen Gesellschaft abfällig als Hillbillys, sprich Hinterwäldler, bezeichnet werden. Die „Hillbilly-Elegie“ zeichnet das Bild eines von Alkohol, Gewalt und Waffenfanatismus geprägten Milieus mit eigener Wertevorstellung: Familie ist alles, sogar wenn sie kaputt ist. Vance selbst wird 1984 in Middletown im US-Bundesstaat Ohio geboren. Die Stadt liegt im sogenannten „Rust Belt“, Amerikas größter Industrieregion, in der sich viele ehemalige Bewohner der Appalachen ansiedeln. Sie werden angezogen von gut bezahlter Arbeit in der Bergbau- und Schwerindustrie, die sozialen Aufstieg verspricht. Der Großvater schuftet im Bergwerk, was der Familie eine auf den ersten Blick bürgerliche Existenz einbringt. Im Inneren dominiert jedoch weiterhin der Hillbilly-Habitus: Probleme werden mit Gewalt geklärt oder im Suff ertränkt. Der Niedergang der Industrie ab den 1970er-Jahren zieht die Arbeiter im „Rust Belt“ mit in den Abgrund. Vances‘ Aufwachsen ist geprägt von Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Resignation. Der Vater verlässt die Familie früh, die alkohol- und drogenabhängige Mutter wechselt andauernd ihre Partner, neigt zu rasender Wut und verprügelt Vance und seine Schwester.
Ein kometenhafter Aufstieg
Trotz dieser denkbar schlechten Startbedingungen entkommt Vance der Prekarität. Vor allem dank seiner Großmutter, die ihm Zuflucht bietet und ihn zu guten schulischen Leistungen anspornt. Nach seinem Abschluss geht er zunächst zu den Marines, studiert dann an der Ohio State University und wechselt schließlich an die Yale Law School. Beim Erscheinen des Buches hat er einen gut dotierten Job in einer Investmentfirma, die unter anderem vom rechtslibertären Milliardär Peter Thiel gegründet wurde. Damals war er noch ein entschiedener Gegner Donald Trumps, verglich ihn sogar mit Adolf Hitler. Der einschlagende Erfolg seines Buches rührt daher, dass Vance die im US-Diskurs wenig beachteten armen Weißen des Mittleren Westens wie in einem Brennglas betrachtet. Will man nachvollziehen, wie Frustration und das Gefühl, abgehängt zu sein, Menschen in die Arme von rechten Populisten treibt, kann einem „Hillbilly-Elegie“ dabei helfen. Denn auf die Demokraten, die „Partei der Arbeiter“, setzt keiner der Protagonisten mehr. Und obwohl sie sich oft grausam verhalten, gelingt es Vance, ihnen allen etwas Liebevolles abzugewinnen. Das führt jedoch zu einer gewissen Sozialromantik. Gewalt wird zwar nicht beschönigt, zuweilen aber relativiert: So sind sie halt, die Hillbillys.
Misstrauen gegen das Establishment
Sie eint zudem ein Misstrauen gegen die politische Elite und die Medien, was sie anfälliger für Verschwörungstheorien macht, so beschreibt es Vance. Er unterfüttert seine Ausführungen mit zahlreichen Studien, durch die er etwa erklärt, wie es zu Segregation in den Stadtvierteln kommt oder warum transgenerationale Traumatisierungen ein Grund dafür sind, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien nur schwer aus der Armut herausfinden. Eine umfassende Gesellschaftsanalyse bietet das Buch allerdings nicht. Vance benennt zwar die immense soziale Ungleichheit in den USA, gibt den Betroffenen aber teils selbst die Schuld daran. „In der weißen Arbeiterschicht ist eine Bewegung entstanden, die die Gesellschaft und die Regierung für alle Probleme verantwortlich macht“, behauptet er im Buch. Viele Hillbillys wären schlicht faul und machten sich mit Arbeitslosenhilfe ein bequemes Leben. Die Erzählung der faulen Armen, die den hart arbeitenden Armen die Stücke vom Kuchen wegnehmen, findet in gewissen politischen Spektren zwar Anklang, doch eine echte Auseinandersetzung mit Ungleichheit sieht anders aus. Doch es passt zum Grundtenor des Buches, der den „amerikanischen Traum“ propagiert, mit Vance als glänzendem Beispiel. Er ist der Aufsteiger, der es mit Ehrgeiz und dem nötigen Quäntchen Glück raus aus dem Elend bis ganz nach oben geschafft hat.
Vom „modernen Konservativen“ zum Rechten
Im Buch bezeichnet sich Vance noch als einen „modernen Konservativen“, mittlerweile versteht er sich als postliberaler Rechter. Die Vorwahl der Republikaner zum Senator von Ohio 2022 gewann er nur, weil er von Trump unterstützt wurde. „J. D. küsst mir den Hintern, so sehr will er meine Unterstützung“, sagte der Ex-Präsident dazu bei einem gemeinsamen Auftritt. Die politische Radikalisierung Vances‘ mündete in seiner Ernennung zu Trumps Vize. Der Ullstein-Verlag, bisheriger Rechteinhaber der deutschen Fassung von „Hillbilly-Elegie“, kündigte daraufhin an, die Lizenz nicht zu verlängern. Inzwischen vertrete Vance „eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“, so die Begründung. Die Rechte sicherte sich daraufhin der Münchner Verlag YES Publishing und brachte „Hillbilly-Elegie“ Mitte August als Taschenbuch heraus. Auch wenn der Inhalt unverändert ist, erscheint das Buch nun in einem anderen Licht. Man ist geneigt, nach Vorzeichen zum Vance von heute im Vance von damals zu suchen. Wettert Vance gegen Scheidungen, weil ihm durch das unbeständige Liebesleben der Mutter eine Vaterfigur verwehrt blieb? Ist aus Vance ein streng gläubiger Katholik und vehementer Abtreibungsgegner geworden, weil er im Buch die fehlende Präsenz der Kirche als einen Grund für die Probleme seines Umfelds ausmacht? Das sind naheliegende, aber küchenpsychologische Erklärungsversuche. Wirklich Aufschluss über die politischen Motive Vances‘ geben sie nicht. Am ehesten noch tut das der Teil des Buches, in dem Vance schon Jurastudent an der Eliteuni Yale ist. Dort muss er sich die Codes der Oberschicht mühsam aneignen, um Teil von ihr werden zu können. Denn neben Ehrgeiz und Glück braucht es für den sozialen Aufstieg auch ein gehöriges Maß an Anpassungsfähigkeit – eine Eigenschaft, die der Politiker Vance bereits unter Beweis gestellt hat.