Im dritten Stock eines Plattenbaus im Zentrum Kiews befindet sich eine Zweiraumwohnung, deren Wohnzimmer einer Werkhalle gleicht. Gut ein Dutzend 3-D-Drucker surren, während ein Ventilator vergeblich versucht, die Luft in dem kleinen Raum umzurühren. Auf den Regalen stehen große, mittlere und kleine Spulen mit bunten Kabeln, die allmählich in den Druckern verschwinden. Sie sind der Rohstoff, aus dem hier Nachschub für die ukrainische Armee hergestellt wird. Mittendrin sitzt Jehor Schuralow mit seinem Laptop auf einer abgewetzten Kunstledercouch und kontrolliert die neuesten Bestellungen: Antennenhalter, Bombenhüllen, Drohnenrampen. „Es wird mit jedem Tag mehr“, sagt der 30 Jahre alte Mann.
Jeder freie Platz seiner Wohnküche ist mit Druckern, Material oder fertigen Produkten belegt. Seit mehr als einem Jahr geht das nun schon so. Sogar im Schlafzimmer stehen schon Kisten mit Material. Die Sache sei ihm etwas außer Kontrolle geraten, gibt Schuralow zu und versucht zu lächeln. „Ich wäre auch wirklich froh, wenn ich das nicht tun müsste“, sagt er dann. Auch mit dem Wort Patriotismus könne er nicht viel anfangen. „Aber ich will es den Leuten, meinen Leuten, an der Front leichter machen.“ Dafür produziert Schuralow im 24-Stunden-Takt, sieben Tage die Woche. Und er ist nur einer von vielen in der Ukraine, in Europa und der Welt.
Denn „die Sache“ ist auch sonst ziemlich außer Kontrolle geraten, was einen der Gründer überaus freut. Der Mann nennt sich Jewhen Wolnow. Im Sommer vergangenen Jahres hob er mit ein paar Mitstreitern ein Unternehmen namens „Druk Army“ aus der Taufe. Mit dem Achtunddreißigjährigen kann man nur über Videotelefon sprechen, weil er eigenen Angaben zufolge in Russland auf einer „Terroristenliste“ steht. „Kadyrow sucht mich“, sagt Wolnow, der die Kopfhörer über einer Militärmütze trägt, und lacht laut. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow ist bekannt dafür, schmutzige Jobs für Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu erledigen, und auch mit eigenen Truppen in der Ukraine unterwegs. Und Wolnow war vielen Russen und Tschetschenen schon vorher ein Dorn im Auge.
Eines seine früheren Hobbys war es, im Feindesland Telefonstreiche zu machen. Darunter waren auch fragwürdige Gags, doch der Kollateralnutzen heute sei: „Viele Russen und Ukrainer kennen mich.“ Seine Popularität hilft ihm, Menschen für seine Initiative zur Unterstützung der Armee zu gewinnen. Mit der Drucktechnik hat er sich bereits vor einigen Jahren vertraut gemacht. „Das hat mich interessiert, ich kaufte einen Drucker, der erschwinglich war.“ Dann kam Corona, und er stellte auf Nachfrage eines Bekannten, der in einer Klinik arbeitet, Gesichtsschutzschilde aus Plastik her. „Da habe ich verstanden, dass 3-D-Druck eine schnelle und preiswerte Lösung sein kann.“
Nach Beginn des russischen Großangriffs erreichten ihn gleich im ersten Monat Anfragen aus der ukrainischen Armee – von Brigaden und sogar von einzelnen Frontsoldaten. Sie benötigten dringend Ersatzteile für Maschinengewehre und, was besonders knapp war, Konnektoren für Starlink-Antennen, über die bis heute ein Großteil der Kommunikation der ukrainischen Armee läuft, nämlich über Satellit. „Ich hatte aber nur einen Drucker“, erzählt Wolnow. „Das dauerte alles viel zu lange.“ Daraufhin habe er begonnen, die Idee über seine Internetkanäle zu verbreiten und andere Leute mit Druckern einzuladen, sich zu beteiligen. Im Nu habe er Mitstreiter für die Produktion gefunden und nicht nur das: Die Schwarmintelligenz half auch, pragmatische Lösungen zu finden – etwa zum Schutz der empfindlichen Starlink-Konnektoren.
Sie sind nämlich nicht für den ständigen Transport im Feld gedacht, weshalb die Verbindungsstücke oft brechen und die Kommunikation ausfällt. 135 Dollar koste ein solches Ersatzteil und sei zudem schwer zu beschaffen, sagt Wolnow. Eine simple Lösung, welche die Internetgemeinde fand, waren Schutzhülsen aus Plastik, die das Abbrechen verhindern. Für einen Materialeinsatz von gerade mal zehn Dollar ließen sich 77 Schutzhülsen drucken. „Die Armee spart allein damit mindestens 10.450 Dollar“, rechnet Wolnow vor. Ein anderes Beispiel seien Startplattformen für Drohnen, die im Krieg heute eine Hauptrolle spielen. Häufig ließen die Soldaten Drohnen aus der Hand in die Luft, was eine erhebliche Verletzungsgefahr bedeute. Mitstreiter entwickelten daraufhin per 3-D-Druck hergestellte Startplattformen, die längst überall an der Front im Einsatz sind.
Mittlerweile operiert die Initiative über eine Internetseite, auf der sich jeder, der mitmachen will, nur registrieren muss und dann sofort anfangen kann, Bestellungen abzuarbeiten. Diese wiederum dürfen nur registrierte Militärangehörige aufgeben. Mehr als 500 verschiedene Produkte sind im Katalog – Zünder, Zielsysteme, Ladehilfen für automatische Gewehre. Die Schnelligkeit ist für viele Soldaten an der Front attraktiv. „Wir haben keine langen Entscheidungswege, müssen nicht auf Genehmigungen warten oder die Befehlskette einhalten“, sagt Wolnow. Regierung und Verteidigungsministerium seien einfach zu langsam. „Wir brauchen schnelle Lösungen. Bei uns kann man direkt aus dem Schützengraben bestellen.“ Inzwischen kämen täglich Aufträge direkt von der Front. Heute liefert „Druk Army“ dorthin mehr als 24 Tonnen Material – jeden Monat.