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Viele der rechtsradikalen Steinewerfer und Straßenschläger, die eine Woche lang englische Städte in Angst und Schrecken versetzt haben, entpuppen sich vor Gericht als biedere Gesellen. Der Mob – das sind Arbeiter, Handlanger und Kleinunternehmer, zudem ein homosexuelles Paar, das in Hartlepool aus einer Bingohalle kam, als draußen die Randale tobte, und bei der Attacke auf eine Migrantenunterkunft in der ersten Reihe mitmachte.

Im Alltagsleben betreiben die beiden eine Ausstattungsfirma für Kindergeburtstage. Aber auch der Anteil der Vorbestraften ist hoch. Zumeist haben sie nicht politische Straftaten auf dem Kerbholz, sondern allgemeine Vergehen wie Ladendiebstahl oder Trunkenheitsfahrten. Allerdings sind die Täter, die so rasch vor den Richtern erscheinen und häufig mit Haftstrafen bedacht werden, nicht ganz repräsentativ, da es sich bei ihnen allesamt um Geständige handelt. Nur sie können in Schnellverfahren abgeurteilt werden. Die Riege der extremistischen Unruhestifter und Hooligan-Schläger wird wohl abwarten, ob die Polizei nach der Auswertung von Videoaufzeichnungen und mithilfe von Gesichtserkennungssoftware genügend Beweise gegen sie sammeln kann. Bis zu ihrer Verurteilung werden in der überlasteten Justiz Monate, wenn nicht Jahre vergehen.

Und so bilden die Fotos der Festgenommenen, die in englischen Zeitungen eifrig abgedruckt werden, vorerst ein trauriges Album weißer, proletarischer Männer, deren Ausländerfeindlichkeit sich vor allem aus Neid und Enttäuschung speist. Umfangreiche Sozialberichte belegen, dass die eingesessene sozial schwache Bevölkerung in den nordenglischen Indus­triestädten eine geringere Aufstiegsdynamik aufweist als Minderheiten aus Indien oder Pakistan. Sie zeigen überdies, dass die Wohlstandsverteilung in der englischen Klassengesellschaft noch immer eine große Unwucht aufweist. Nur knapp ein Viertel der Briten kann gemäß ihrem Einkommen einer auskömmlich bis bequem lebenden Mittelschicht zugerechnet werden – in Deutschland zählen beinahe zwei Drittel der Bevölkerung dazu.

Vertrauensmangel und Verlorenheitsgefühl der englischen Unterklasse sind im vergangenen Jahrzehnt durch den Brexit dramatisch verstärkt worden. Die Verheißungen der Befürworter des Austritts aus der EU sind gleich doppelt unerfüllt geblieben: Weder zündeten die Versprechen von Wirtschaftswachstum und steigenden Investitionen (etwa in Krankenhäuser), noch bewahrheitete sich – am Beispiel von Einwanderung und illegaler Migration – die Zusage, „die Kontrolle zurückzugewinnen“.

Die grobe Fahrlässigkeit der konservativen Regierungen trug in den vergangenen zehn Jahren noch weiter zu dieser Abkopplung bei. Während die legale Migration per saldo auf ein Rekordhoch von 750.000 Einwanderern im Jahr stieg, um unter anderem den Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen und die Finanzknappheit der Universitäten zu lindern, blieb die Handhabung der illegalen Zuwanderung widersprüchlich und irrational.

Einerseits verfolgten die konservativen Premierminister Boris Johnson und Rishi Sunak den Wolkenkuckucksplan einer Generaldeportation von Illegalen nach Ruanda, andererseits war die Regierung administrativ mit der Handhabung der steigenden Zahl der Bootsmigranten drastisch überfordert. Der Anteil derer, die in Hotels untergebracht waren, blieb auch deswegen hoch, weil gegen andere Unterkunftsformen teils absurde Einwände erhoben wurden. Die Nutzung eines stillgelegten Fliegerhorstes etwa stieß auf den Vorbehalt, von diesem historisch bedeutsamen Ort seien doch einst die legendären Bomber gestartet, die im Zweiten Weltkrieg deutsche Talsperren zerstörten.

Auch das Wahlergebnis, das die Basis der überwältigend hohen neuen Regierungsmehrheit bildet, zeugt von dem systemischen Vertrauensverlust vieler Wähler: Die knapp zwei Drittel der Sitze, die Labour errang, beruhen nur auf rund einem Drittel der Wählerstimmen. Der neue Premierminister Keir Starmer hat vorerst erfolgreich versucht, die Ausschreitungen mit Härte gegen die Täter zu beenden; das zivile Engagement von Gegendemons­tranten hat ihm geholfen. Aber die Rechtspopulisten um Nigel Farage und auch einige der Konkurrenten um die Führung der Konservativen zündeln weiter. Wirtschaftswachstum ist der Hebel, den Labour bewegen will, um der Unterschicht im Norden Englands Auswege aus dem sozialen Elend zu eröffnen.

Die Rückkehr in den EU-Binnenmarkt hat sie dennoch felsenfest ausgeschlossen – aus Angst, die genannte Klientel damit neuerlich zu verprellen. Doch nach den Brandbildern der vergangenen Tage ist fraglicher denn je, ob private Investoren sich bald in großer Zahl in Hartlepool, Bolton, Liverpool oder Southport sehen lassen werden.