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Aufgrund der großen Einwandererströme aus Deutschland und den skandinavischen Ländern lebten schon im 19. Jahrhundert mehrere Millionen Lutheraner in den Vereinigten Staaten. In der amerikanischen Geschichte gab es bisher allerdings noch nie einen Präsidenten, der einer lutherischen Kirche angehörte. Nicht einmal zu einem Vizepräsidenten hat es gereicht. Über Hubert Humphrey, der von 1965 bis 1969 Vizepräsident des Demokraten Lynden B. Johnsen war, lässt sich lesen, dass er zwar als lutherischer Christ aufwuchs, später aber zu den Methodisten wechselte.

Mit der Nominierung von Tim Walz als „running mate“ von Kamela Harris könnte sich das bald ändern. Sollte die demokratische Präsidentschaftsbewerberin, die selbst einer baptistischen Gemeinde angehört, die Wahl am 5. November gewinnen, wäre Walz der erste lutherische Vizepräsident.

Der 60 Jahre alte Gouverneur von Minnesota an der kanadischen Grenze bezeichnet sich selbst als „Minnesota Lutheran“. Walz gehört der „Pilgrim Lutheran Church“ in St. Paul an, die zur „Evangelical Lutheran Church in America“ (ELCA) gehört. Der Familienvater postet gelegentlich auch Fotos von sich, wenn er einen lutherischen Gottesdienst besucht.

Im Mittleren Westen, wo Walz Stimmen aus der weißen Mittelschicht für seine Partei sichern soll, liegt der Anteil der Lutheraner deutlich höher als an den dicht besiedelten Küsten. Dies gilt besonders für Minnesota, wo der Anteil der lutherischen Christen auf etwa 20 Prozent beziffert wird. Dies ist auf den besonders hohen Anteil skandinavischer und auch deutscher Einwanderer in dem Bundesstaat zurückzuführen, der sich auch in der Familiengeschichte des derzeitigen Gouverneurs widerspiegelt.

Der Familienname Walz geht auf den 1867 aus Baden ausgewanderten Ururgroßvater Sebastian Walz zurück. Tim Walz hat aber auch schwedische, luxemburgische und irische Vorfahren, was erklären könnte, dass seine Eltern der römisch-katholischen Kirche angehörten. Walz schloss sich erst später der lutherischen Kirche an.

Solche Wechsel sind, wie schon das Beispiel von Hubert Humphrey zeigt, in Amerika üblich und oft vorwiegend pragmatischen Erwägungen geschuldet: Welche Kirche gibt es am Wohnort? In welcher Gemeinde fühle ich mich wohl?

Trotz, vielleicht auch wegen der häufigen Wechsel pflegen die traditionellen Denominationen, zumal die lutherischen Kirchen, weiterhin ihr konfessionelles Profil. Und das Profil der ELCA passt bemerkenswert gut zum persönlichen Image und zur politischen Orientierung von Tim Walz. Lutheraner gelten in den Vereinigten Staaten als Christen, die einen gewissen Wert auf Liturgie und äußere Formen legen, ihren Glauben jedoch nicht laut nach außen tragen, sondern eher im Stillen karitativ wirken.

Dem entspricht eine Äußerung von Walz vor Gewerkschaftern: „Weil wir gute Minnesota-Lutheraner sind, haben wir eine Regel: Wenn du etwas Gutes tust und redest darüber, zählt das nicht mehr.“ Und bei einer Tagung des Demokraten-nahen „Center for American Progress“ äußerte Walz, seine Partei vertrete ein ganz ähnliche Haltung, denn sie spreche ebenfalls kaum über ihre Erfolge. Gemeint war das als Problemanzeige.

Bei der Auswahl des Vizepräsidenten galt Tim Walz als die eher linke Alternative zu Josh Shapiro, dem konservativ-jüdischen Gouverneur von Pennsylvania. Denn Walz vertritt bei den Themen Abtreibung, Homosexuellenrechte und Freigabe von Cannabis progressive Positionen. Dies mag auf den ersten Blick in Spannung zu dem gemäßigten Profil des amerikanischen Luthertums stehen.

Doch die ELCA hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wie andere protestantische Mainline-Kirchen in gesellschaftspolitischen Fragestellungen immer stärker nach links bewegt. In dem Maß, wie an den theologischen Seminaren die alte Dominanz der stark von deutschsprachiger Literatur geprägten Dogmatik nachließ, gewannen dort Fragen von ethnischer und sexueller Diversität an Raum – und Stellen.

So bodenständig die Gottesdienste in der ELCA liturgisch wirken, so linksliberal sind häufig die Theologie und die Ethik, die man dort zu hören bekommt. Auch hier könnte man eine Parallele zu Walz erkennen, der einerseits mit seiner Vorliebe für die Jagd und Football den Prototyp eines biederen „Minnesota dad“ abgibt, andererseits aber keineswegs nur sozialpolitisch links steht, sondern auch Schnittmengen mit der linken Identitätspolitik aufweist.

Mit Blick auf den Kurs der ELCA sagen Kritiker, dass sie sich auf eine Theologie eingelassen habe, für die es kaum Gemeinden gebe. Denn gerade unter progressiven Jüngeren gibt eine Abwendung von den Kirchen und starke Säkularisierungstendenzen.

Minnesota ist inzwischen einer der wenigen Staaten, in denen die protestantischen Mainline-Kirchen weiter stärker sind als die evangelikalen Kirchen, die politisch oft konservativ orientiert sind. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass die ELCA diesen Trend mit einer Änderung ihres theologiepolitischen Kurs drehen könnte. Die konservativ-lutherische Missouri-Synode verliert ebenfalls Mitglieder; in jüngerer Zeit auch die evangelikalen Kirchen.

Und in den gesellschaftlichen Debatten Amerikas wird es zunehmend leichter, religionskritische oder zumindest unkirchliche Positionen einzunehmen. Auch dazu könnte der zurückhaltende Umgang von Tim Walz mit seiner Religiosität passen.