Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat über die kremltreuen Medien RT und Ren TV Video- und Tonaufnahmen von der Festnahme des amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich vorgelegt. Sie sollen die offizielle Version illustrieren, der zufolge der Korrespondent des „Wall Street Journal“ auf einer Reise nach Jekaterinburg im März 2023 „spioniert“ habe und dabei „auf frischer Tat ertappt“ worden sei, wie Präsident Wladimir Putins Sprecher damals sagte. Unter dem entsprechenden Straftatbestand wurde Gershkovich am 19. Juli zu 16 Jahren Haft verurteilt.
Am 1. August kam er im Rahmen des Gefangenenaustauschs frei, mit dem Putin anderen Agenten voran den FSB-Auftragsmörder Wadim Krassikow freibekam. Seither erfüllen russische Medien die Aufgabe, die von Moskau Freigelassenen als „Vaterlandsverräter“ respektive „Spione“ anzuschwärzen. Auch der 32 Jahre alte Journalist soll als solcher dargestellt werden. Dabei zeigen die Aufnahmen trotz der offenkundigen Absicht hinter ihrer Veröffentlichung nur, wie er seiner Arbeit nachging. Die kriminalisiert Russland jedoch zusehends, das mit dem Fall Gershkovich ein effektives Zeichen der Einschüchterung gesetzt hat.
Die Aufnahmen entstanden im Bukowski Grill im Zentrum von Jekaterinburg. In dem Restaurant in der Karl-Liebknecht-Straße war Gershkovich am Nachmittag des 29. März vergangenen Jahres für ein Interview verabredet. Mit einer Quelle wollte er „über Russlands erstaunliches Tempo“ in der Instandsetzung von Panzern für den Ukrainekrieg sprechen, wie das „Wall Street Journal“ nun schrieb. „Russlands Rüstungsproduktion war ein Thema, über das regierungsfreundliche Nachrichtensender offen und stolz berichtet hatten, während ihr Land ausländischen Sanktionen trotzte, um die Kriegswirtschaft anzukurbeln. Doch in Putins 23. Jahr an der Macht tauchten neue Bedrohungen für die internationale Presse auf.“
Gershkovich recherchierte zur Rüstungsindustrie. Laut dem FSB ging es Gershkovich um das Unternehmen Uralwagonsawod, das in Nischnij Tagil nördlich von Jekaterinburg ansässig ist. Die am Montag veröffentlichten Aufnahmen zeigen, dass der Journalist in eine Falle tappte, die der Geheimdienst für ihn aufgestellt hatte. Der Interviewpartner habe befunden, dass die Gershkovich interessierenden „Informationen über die Tätigkeit des Rüstungsunternehmens“, so Ren TV unter Berufung auf den FSB, „ein Staatsgeheimnis darstellen könnten“. Diese Darstellung spräche dafür, dass Gershkovichs Interviewpartner oder das Unternehmen den FSB einschalteten. Doch ist auch denkbar, dass der Geheimdienst von selbst auf den Kontakt aufmerksam wurde, weil er sicherheitsrelevante Betriebe überwacht.
Vermutlich zeichnete der Mann, der mit Gershkovich am Tisch saß – was von verschiedenen Kameras verdeckt gefilmt wurde –, das Gespräch mit dem Reporter auf. Stimme und Gesicht des Mannes sind unkenntlich gemacht, von Vorwürfen gegen ihn wegen „Staatsverrats“ ist nie berichtet worden. Die Audioaufnahme ist auf 40 Sekunden Gespräch zusammengeschnitten. Der Interviewpartner bittet den Journalisten, „sehr vorsichtig zu sein, weil das geheime Informationen sind“. Offenkundig hatte er ein Dokument mitgebracht: Auf den Videobildern sieht man, wie er und Gershkovich etwas ansehen und der Journalist Notizen macht.
Der in New York geborene Sohn sowjetischer Emigranten versichert in ganz leicht amerikanisch gefärbtem Russisch, man werde „nicht einmal schreiben, dass wir Dokumente gesehen haben“, sondern nur eine „anonyme Quelle“ zitieren. So werde weder die Zeitung verdächtigt, Daten zu sammeln, noch jemand anderes, welche übergeben zu haben. Der „Ansatz“ bestehe darin, „einfach ein Interview“ zu führen. „Darum habe ich gesagt: zu Hause lassen“, sagt Gershkovich offenbar mit Blick auf das Dokument.
Womöglich hatten sich der Korrespondent und das „Wall Street Journal“ so absichern wollen. Denn Russland umgibt insbesondere Militär und Rüstung mit Geheimhaltungsvorschriften, die immer weiter ausufern und harte Strafen vorsehen. Längst zählt die angebliche Übergabe „geheimer Daten“ zum Standardvorgehen insbesondere gegen Amerikaner.
Einige sagen: „Selber schuld“. Weder das „Wall Street Journal“ noch Gershkovich kommentierten die nun veröffentlichten Aufnahmen. Einer seiner russischen Freunde, der exilierte Journalist Ilja Schepelin, bezeichnete auf seinem Telegramkanal die Veröffentlichung als Beispiel dafür, „wie ein FSB-Provokateur arbeitet, der eigens zum Interview mit ‚geheimen Dokumenten‘ kommt, damit ein Journalist wegen Spionage eingelocht wird“, um diesen dann „gegen einen echten Killer auszutauschen“.
In den Kommentaren zu dem Eintrag entspann sich eine Diskussion zu den äußerst engen Grenzen journalistischer Arbeit in Putins Russland. Jemand merkte an, dass Gershkovich die offenbar verabredungswidrig mitgebrachten Dokumente nicht zurückgewiesen habe, nicht weggegangen sei und auch nicht den Gesprächspartner fortgeschickt habe. Schepelin schrieb dazu, obwohl manche nun sagten, „selber schuld, wenn er in die Dokumente guckte“, und man immer „noch vorsichtiger und noch sorgfältiger“ sein müsse, „ändert das nichts daran, dass es eine Provokation des FSB und nicht Spionage war“. Die in Russland verfolgten Journalisten von „Agenstwo“ hoben hervor, dass es übliche journalistische Praxis ist, einem Gesprächspartner, der sich bedroht fühlt, Anonymität zuzusichern.
Die Aufnahmen zeigen auch Gershkovichs Festnahme durch Männer in Zivil, offenkundig FSB-Mitarbeiter. Einige sind maskiert, einer von ihnen springt hinter den auf einem Sofa sitzenden Reporter. Sie legen ihm Handschellen an, pressen ihn auf den Teppichboden des Lokals, bugsieren ihn fort. Der Fall wirkt auch über Krassikows Freilassung hinaus fort, indem er die trotz Militärzensur weiter in Russland tätigen Journalisten von Recherchen im Rüstungsbereich und allgemein in Gegenden mit entsprechenden Einrichtungen und Betrieben abschreckt.