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Der Anschlag vom 7. Oktober hat die Situation von Juden weltweit verändert. Die antisemitischen Vorfälle sind sprunghaft angestiegen. Allein bis zum Jahresende 2023 kam es in Deutschland zu knapp 2800, mehr als im gesamten Jahr zuvor. Juden werden verbal und körperlich attackiert, mit Steinen beworfen. Brandsätze werden auf Synagogen geschleudert, Stolpersteine aus den Bürgersteigen gerissen oder beschmiert. Studenten sprühen antisemitische Parolen an Wände ihrer Universität. Auf Mahnmalen für die ermordeten Juden werden Slogans wie „Gaza?“ oder „Free Palestine“ angebracht. Von hasserfüllten E-Mails, Tweets und Plakaten sowie Vernichtungsgeschrei auf Demonstrationen ganz zu schweigen.

Je länger der Krieg im Gazastreifen und neuerdings auch in Libanon andauert, desto stärker richten sich die Schuldzuweisungen für Gewalt im Nahen Osten auf Israel. Das Ausmaß an Terror und Unterjochung der palästinensischen Bevölkerung durch die Hamas, deren Lügen, die Korruption der UNRWA, des Palästinenser-Hilfswerks der Vereinten Nationen, die Verkommenheit ihres Generalsekretärs Guterres und die noch viel größere der UN-Sonderberichterstatterin Albanese – all das wird von den Opferzahlen überdeckt, die Israels Feldzug gegen die Terroristen hervorbringt.

Dass Israel angegriffen wurde, wird als Akt des berechtigten politischen Widerstands gedeutet, auch wenn nicht zu sehen ist, inwiefern das Abschlachten von Besuchern eines Musikfestivals unter diesen Begriff fallen kann. Die Toten Israels werden gleichwohl als Kollateralschäden einer antikolonialen Aktion hingenommen. Benjamin Netanjahu wird mit Adolf Hitler verglichen. Die Flucht und Vertreibung der ortsansässigen arabischen Bevölkerung im Zuge der Staatsgründung Israels – und des sofort einsetzenden Kriegs der umliegenden arabischen Staaten gegen Israel – wird zu einem Analogon der Shoah stilisiert. 750.000 Flüchtlinge stehen so sechs Millionen Ermordeten gegenüber. Und auch heute sitzt der Begriff „Genozid“ bei vielen sehr locker, wenn es um die Kriegsführung Israels geht.

Wenn die Berliner Polizei einen minderjährigen Bengel einsammelt, der zur Provokation eingesetzt wurde und auf einer Demonstration mit einer Palästinafahne herumfuchtelt, wird gehöhnt, das sei wohl jene deutsche Staatsräson. Wie viel Hass auf Juden mancherorts schon muslimischen Kindern eingeimpft wird, dazu fiel vom selben Kommentator noch kein Satz.

Ein klares Wort in der Sache erhält man von solchen Berichterstattern nicht, lieber lassen sie „Retweets“ für sich sprechen. Die israelische Regierung ist eine Katastrophe für das Land. Recht wohl. Aber wie finster es in den Herzen derer ist, die über Hamas und Hizbullah nur zu sagen wissen, die Palästinenser seien die Opfer Israels, dazu hört man in hundert Tweets und Kommentaren nichts. Jeder Umweg wurde für den Nachweis beschritten, die Vorgänge auf der fünfzehnten Documenta seien so schlimm nun auch wieder nicht gewesen. Analogien zwischen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und der israelischen Antwort auf den Terror der Hamas wurden bemüht, um Israel in ein schiefes Licht zu setzen. Der Gazastreifen wurde mit dem Warschauer Ghetto verglichen, was nicht dadurch besser war, dass eine jüdische Publizistin den Vergleich zog. Der Rückzieher, den die Universität zu Köln machte, als sie eine Professorin wieder auslud, die dazu aufgefordert hatte, israelische Universitäten zu boykottieren, wurde als Beleg dafür genommen, das Land bewege sich auf einen neuen McCarthyismus zu. Die Unsinnigkeit des Boykottaufrufs blieb unerwähnt.

Diese Situation ist bekannt. Unlängst sind unter dem Titel „Der neue Antisemitismus“ Essays des Publizisten Jean Améry aus den späten Sechziger- und Siebzigerjahren veröffentlicht worden. In ihnen klingen viele Motive unserer Gegenwart an. Einst, so Améry, habe man den Antisemitismus den „Sozialismus der dummen Kerle“ genannt, heute, 1969, stehe er „im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden“. Als Antizionismus und „Israelkritik“, als Antikolonialismus und Kritik von Apartheid erscheine er wieder ehrbar. Es ist, als ob Améry zu heutigen Studenten spreche, wenn er davor warnt, die andere Seite im Konflikt und ihren „heiligen Hass“ als progressiv misszuverstehen.

Dabei bestreitet er nicht die israelischen Aggressionen und Völkerrechtsverstöße. Israel sei eine Besatzungsmacht, Besatzung gehe mit Unterdrückung und Gewaltspiralen einher. Welche andere Wahl die israelischen Regierungen in der permanenten Verteidigungssituation ihres Staates gegen äußere Feinde und gegen den Terrorismus gehabt hätten, werde von der Linken jedoch nicht erörtert. Jüdische Unterdrücker hier, arabische Freiheitskämpfer dort, mehr fällt vielen auch heute, ein Jahr nach dem Gemetzel an der Grenze zu Gaza, nicht ein.

Nach dem 7. Oktober wurde vielfach das Wort bemüht, die Existenz Israels gehöre zur deutschen Staatsräson. Es war leichter ausgesprochen als verstanden. Implizit ist ihm, dass diese Existenz als ernsthaft gefährdet angesehen werden muss. Gefährdet durch den Judenhass in der muslimischen Welt und nicht nur in ihr. Gefährdet aber wohl auch durch die rechtsextremen Minister in der Regierung Benjamin Netanjahus. Im Begriff „Staatsräson“ steckt außerdem der Anspruch auf Rationalität. Denn gefährdet ist die Existenz Israels nicht zuletzt durch Dummheit und Unwissenheit in der Einschätzung dieses Staates. Sie sind heute breit verteilt über das ganze politische und intellektuelle Spektrum. Die Formel von der Existenz Israels als Teil der deutschen Staatsräson stellt sich dem entgegen. Sie negiert eine bloß interessengeleitete Politik in Bezug auf Israel. Und sie negiert das Desinteresse an diesem Staat.