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Beliebtes Sturmgewehr AR-15 in den USA: Alles Wissenswerte

Mit dieser Waffe wollte die amerikanische Armee in den späten Fünfzigerjahren die Bewaffnung ihrer Infanterie verbessern und die technische Überlegenheit der russischen Armee ausgleichen. Diese hatte begonnen, ihre Männer mit AK-47-Kalaschnikows auszurüsten. Die amerikanischen Soldaten sollten im Gefecht ein leichtgewichtiges, zugleich tödliches Sturmgewehr in der Hand haben, deren Kugeln noch in 450 Meter Entfernung durch einen Stahlhelm dringen konnten.

Die Armeeführung forderte die Hersteller auf, eine solche Waffe zu entwickeln. Der Autodidakt Eugene Stoner entwickelte für die Firma Armalite das Gewehr. Armalite verkaufte 1959 das Patent an die Colt’s Manufacturing Company, die neben Militäraufträgen von 1965 an begann, die zivile Version des Sturmgewehrs zu vermarkten. Im Jahr 1977 lief das Patent aus, worauf sich knapp 30 Hersteller daran machten, das Gewehr zu produzieren.

Die AR-15 war als Waffe fürs Gefecht im Krieg ausgelegt und nicht für die individuelle Selbstverteidigung. Das ist relevant, weil damit die Antwort auf die Frage verbunden ist, ob Bundesstaaten ihren Kauf und Besitz verbieten dürfen oder ob damit der berüchtigte Zweite Verfassungszusatz (Second Amendment) verletzt wird: das Grundrecht der Amerikaner, Waffen zu besitzen und zu tragen. Längst ist das Gewehr ein politisches Symbol geworden, um das gerungen wird vor Gerichten, in Parlamenten und in der öffentlichen Arena. Unversöhnlich gegenüber stehen sich die Gruppe, die Waffen aus dem öffentlichen Leben verbannen will und die Gruppe, die ihren Besitz als ein Grundrecht sieht, an dem nicht gerührt werden darf.

Die technischen Eigenschaften erklären einen Teil der Beliebtheit. Das Gewehr ist leicht mit rund 3 Kilogramm, akkurat und hat keinen starken Rückschlag. Damit ist es handlich. In den ersten Jahren war das Zivilgeschäft trotzdem mau. Von Mitte der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre verkaufte Colt gerade einige Tausend AR-15 pro Jahr. Mit dem Auslaufen des Patents und dem Auftreten neuer Hersteller allerdings weitete sich der Markt. Doch die Zielgruppe blieb überschaubar: Leute, die sich für den Zusammenbruch der Gesellschaft wappnen wollten, schreiben die „Wall Street Journal“-Autoren Cameron McWhirter und Zusha Elinson in ihrem 2023 veröffentlichten Buch „American Gun – The true story of the AR-15“.

„Die ideale Feuerwaffe für den modernen amerikanischen Mann“

Erst mit der Jahrtausendwende wurde die AR-15 populär. Die Autoren führen den Erfolg auf geschicktes Marketing zurück. Dem Buch zufolge zielten die Hersteller zunehmend auf „Wochenend-Krieger“, die von älteren Generationen als „Sofa-Kommandeure“ belächelt wurden: Sie waren nie in einen Krieg hineingezogen worden. „In vielfacher Hinsicht war die AR-15 die ideale Feuerwaffe für den modernen amerikanischen Mann: Sie sah macho aus, aber er musste sich nicht sehr anstrengen, um damit zu schießen.“ Laut Anwalt Josh Koskoff, der Opfer von Massenschießereien verteidigt, umwarb die Industrie zunehmend junge Männer, die besonders empfänglich und beeinflussbar schienen. Werbemittel der Wahl waren unter anderem Videospiele. In „Call of Duty“, einem der populärsten Spiele überhaupt, wurden AR-15-Gewehre zur gefragten Ausrüstung.

Zwischen 1994 und 2004 allerdings herrschte ein Verbot der Sturmgewehre, das in Reaktion auf schwere Attentate mit halbautomatischen Waffen vom Kongress erlassen worden war. Die Wirkung war umstritten, man konnte mit einigen technischen Kniffen das Verbot umgehen. Mit dem Ende des Verbots begann die Industrie und allen voran Smith & Wesson heftig in die Produktion zu investieren. Die Waffe passte zum Lebensgefühl vieler Amerikaner nach den 9/11-Attentaten. Die Käufer reanimierten die Waffenindustrie, die wegen zurückgehender Kriminalität und nachlassender Freude an der Jagd in der jüngeren Generation strauchelte.

Ein Finanzinvestor im Zentrum

Zu den Protagonisten, die diese Entwicklung ausschlachten wollten, gehörte der Finanzinvestor Cerberus Capital Management, der eine Reihe von Waffenunternehmen und Marken wie Remington oder Bushmaster zusammenkaufte und unter dem Dach der Freedom Group bündelte. Ende der Neunzigerjahre wurden jährlich rund 100.000 AR-15 hergestellt, knapp 25 Jahre später waren es nach Industrieschätzungen um die zwei Millionen. Inzwischen spielen politische Motive beim Kauf eine zentrale Rolle, mutmaßt Politologe Spitzer. Nach schrecklichen Attentaten boomt der Absatz, weil die Waffenliebhaber Waffenrechtsverschärfungen fürchten.

Wenig scheint den Siegeszug der Waffe bremsen zu können, zumal der amerikanische Su­preme Court mit Grundsatzentscheidungen das Recht auf Waffenbesitz ausgeweitet hat. Dazu kommt, dass der Kongress ein Gesetz verabschiedete, das Waffenhersteller vor Sammelklagen von Schussopfern und deren Familien schützt.

Das deutet auf das zentrale Problem der AR-15. Sie wird überproportional häufig in blutigen Attentaten verwendet, bei der Einzeltäter mehrere Personen tötet. Obwohl die Gewehre nur fünf Prozent der Feuerwaffen entsprechen, kommen sie in 25 Prozent aller „mass shootings“ zum Einsatz. Das sind laut FBI-Definition Anschläge, bei der mehr als vier Personen erschossen werden. Wenn die Täter das Sturmgewehr verwenden, dann fallen die Anschläge umso tödlicher aus. Wenn mehr als 20 Menschen zu Tode kommen, dann sind fast immer AR-15 oder ähnliche Gewehre im Spiel. Ob in Las Vegas mit 60 Toten, Orlando mit 49 Toten oder Newton in Connecticut mit 27 Toten – jedes Mal nutzten die Täter eine AR-15. In sieben der zehn tödlichsten „mass shootings“ seit 2006 war die Waffe der Wahl für die Attentäter.

Dreimal so schnell wie Pistolenkugeln

Zwei Eigenschaften machen die AR-15 für Attentäter attraktiv: Sie haben eine tödliche Feuerkraft und können in großer Geschwindigkeit feuern. Die Kugeln fliegen dreimal so schnell wie Pistolenkugeln. Wenn die rotierende Kugel durch den Körper dringt, erzeugt sie einen Hohlraum, der bis zu zehnmal so groß ist wie die Kugel selbst. Die zerschmetterten Knochen und zerrissenen Organe sind oft nicht mehr zu reparieren. Weil das Gewehr dabei kaum Rückschlag hat, kann die Schütze ungestörter zielen und schießen. Mit kleinen technischen Anpassungen kann das Gewehr fast so schnell schießen wie ein Maschinengewehr. Der Attentäter von Dayton in Ohio brauchte 32 Sekunden, um neun Menschen zu töten und 17 weitere zu verwunden. Binnen zwei Minuten hatte ein Attentäter in einem Supermarkt in Buffalo, New York, zehn Menschen ermordet und drei verwundet.

Diese grimmig-detaillierte Darstellung über die Wirkung der Waffe stammt in Grundzügen aus einer Urteilsbegründung des Berufungsgerichts in Maryland, das jetzt das Recht des Bundesstaates bestätigte, den Besitz von Gewehren wie der AR-15 zu untersagen. Bisher haben neben Kalifornien und Washington State eine Handvoll Ostküsten-Bundesstaat den Besitz von halbautomatischen Sturmgewehren wie der AR-15 verboten. Weil in New Jersey jüngst ein Verbot vom Gericht als nicht verfassungskonform abgeurteilt wurde, scheint nun eine Entscheidung des Supreme Courts unausweichlich.

Das wird spannend: In einer Grundsatzentscheidung hatte das höchste Gericht 2008 das Grundrecht auf Waffenbesitz als ein Recht auf Waffen zur individuellen Verteidigung gedeutet. Dafür aber, so das Berufungsgericht in Maryland, ist die AR-15 komplett ungeeignet. Sie ist als Gewehr nicht nur deutlich unhandlicher als eine Pistole. Ihre Kugel dringen durch Wände und Türen selbst auf 300 Meter Entfernung und gefährden damit nicht nur Familienmitglieder und Nachbarn, sondern auch andere Unschuldige.

Eine weitere umstrittene Grundsatzentscheidung des Supreme Court bindet allerdings die Gerichte. Wenn sie über Waffenregulierung zu urteilen haben, dann müssen sie als maßgebliches Kriterium zu Grunde legen, ob die Beschränkung des Waffenbesitzes mit der historischen Tradition der Nation in Bezug auf Waffenregulierung vereinbar ist.

Rückbezug auf den Wilden Westen

Der New Yorker Politikprofessor Robert Spitzer, der seit zehn Jahren alte Waffengesetze in den USA erforscht, glaubt, dass die konservativen Richter davon ausgingen, die Mythen des Wilden Westens kämen der historischen Wahrheit nahe. Sie dachten, dass jeder früher Waffen besaß und damit umzugehen wusste und dass es keine nennenswerten Gesetze gab, die den Waffenbesitz beschränkten. „Und das“, so Spitzer, „ist einfach komplett falsch“.

Der Wilde Westen war gar nicht so wild. Es gab Tausende Waffenregulierungen. Sie bezogen sich auf den Erwerb, den Verkauf, den Besitz oder den Transport, zeigt Spitzers Forschung. Waffen konnten sogar konfisziert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sieben Bundesstaaten die Vorläufer halbautomatischer Waffen zu verbieten. Verbote bezogen sich auf Schießpulver, Bowie-Messer, Schleudern, Schwerter und Maschi­nengewehre, die in der Prohibition zu Ruhm kamen. Auch abgesägte Schrotflinten wurden untersagt.

Die Richter in Maryland kommen zum Schluss, dass Amerika eine „große Tradition in der Regulierung solcher Waffen hat, die für offensive Zwecke entwickelt wurden und bei denen sich am Ende herausstellte, dass sie eine außergewöhnliche Gefahr für unschuldige Zivilisten darstellten“. Ob die konservativen Richter am Supreme Court diese Deutung teilen, ist allerdings höchst ungewiss.

Die Hinterbliebenen von Attentatsopfern müssen sich vorerst mit kleinen Erfolgen trösten. Im Februar 2022 hatte der Anwalt Josh Koskoff eine Entschädigung von 73 Millionen Dollar durchgesetzt für die Familien der Sandy-Hook-Opfer gegen die Freedom Group von Cerberus Capital, die sich in Remington umgetauft hatte. Bei dem Massaker erschoss der Täter 20 Schüler der ersten Klasse und sechs Erwachsene.