Die Europäische Verteidigungsunion: Notwendigkeit einer EU-Armee?
Für die neue Legislaturperiode im EU-Parlament in Brüssel wird das Thema Verteidigung eine große Rolle spielen. Die Frage, ob eine Europäische Verteidigungsunion, also ein gesamteuropäischer militärischer Verband oder sogar eine Armee für Europa erforderlich ist, ist so alt wie die europäische Idee selbst. Vor 70 Jahren, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, scheiterte diese Initiative an den Bedenken Frankreichs. Jetzt sind es vor allem die Franzosen, die auf eine gemeinsame EU-Verteidigung drängen.
Verteidigung: ein Thema ganz oben auf der Prioritätenliste in Brüssel. Als neue EU-Chefdiplomatin wird Kaja Kallas auf Josep Borrell folgen. Kallas hatte zuvor als estnische Ministerpräsidentin die EU immer wieder angetrieben, mehr für die Ukraine und die eigene Verteidigung zu tun. Auch Kommissionspräsidentin von der Leyen plant die Einführung eines Kommissars oder einer Kommissarin für Verteidigung. Das große Thema für die neue Legislaturperiode in Brüssel, für die neue Kommission, für das neue Parlament, aber auch für die Hohe Vertreterin, wird das Thema Verteidigung sein.
Topthema für die Spitzenkandidaten der Parteien im EU-Wahlkampf war die Aufrüstung und die Schaffung eines neuen Postens: eines Kommissars für Verteidigung. Die Prioritätenliste der EU hat sich durch den russischen Angriffskrieg verändert. „Die EU galt immer als Friedensprojekt und ich glaube auch, dass sie das nach wie vor ist“, erklärt Jana Puglierin von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. „Aber sie hat sich eigentlich aus dem Bereich Verteidigung weitestgehend rausgehalten.“ Die NATO soll Europa schützen, doch Russlands Aggression bedroht das Bündnis, und Populisten planen den Austritt aus der EU.
Verteidigung obliegt nach wie vor der Hoheit der EU-Mitgliedsstaaten, doch schon jetzt kooperieren europäische Staaten: Deutschland mit Frankreich, auch das „Weimarer Format“ zwischen Polen, Frankreich und Deutschland wurde reaktiviert. „Worauf es ankommt, ist eine vertiefte Kooperation und Integration der europäischen Kräfte, um eine größere europäische Rolle in der NATO zu spielen“, so Puglierin. Dabei gehe es aber explizit nicht darum, eine Parallelstruktur zur NATO zu erschaffen. Sondern „dass die Europäer mehr beitragen, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, um Russland abzuschrecken.“
Das bedeutet – zumindest derzeit – keine Europäische Armee. Denn die brächte viele weitere Fragen mit sich: Wer befehligt sie? Werden nationale Armeen abgeschafft? Eine bessere Verzahnung der bisher bestehenden Armeen sei realistischer: „Interoperabel, dass sie miteinander arbeiten können, dass es um gemeinsame Standards geht und dass es quasi um eine verstärkte Kooperation geht, aber nicht so sehr um eine politische Integration“, erklärt Politikwissenschaftlerin Puglierin.
Das hat der russische Angriff auf die Ukraine gezeigt: Munition, die fehlt, oder mit den Waffen der Mitgliedstaaten nicht kompatibel ist. Das gilt es zu optimieren, erklärt auch General Robert Brieger, der Vorsitzende des EU-Militärausschusses. „Wir haben eine unglaubliche Varietät an unterschiedlichen Waffensystemen und Einsatzsystemen. Diese Varietät gehört drastisch reduziert. Ein Beispiel: Es gibt zehn europäische Kampfpanzer und einen amerikanischen.“
Und es gab bereits erste Erfolge auf EU-Ebene: Die EU hat jetzt eine schnelle Eingreiftruppe, die aus den Militärkräften der einzelnen Mitgliedsstaaten zusammengesetzt wird, für Einsätze wie Evakuierungen oder Friedensmissionen. Im vergangenen Jahr hatte sie ein gemeinsames Militärmanöver. Es war das erste gemeinsame Militärmanöver in der Geschichte der EU. Nächstes Jahr soll die Truppe, 5.000 Personen stark, voll einsatzfähig sein. Auch die Führungsfrage ist geklärt, so Brieger: „Der Kommandant einer solchen Eingreiftruppe würde im Anlassfall von den Mitgliedsstaaten nominiert werden.“
„Das ist die große Frage: sind wir in der Lage, etwas auf den Weg zu bringen,“ erklärt Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Gespräch mit ZDFheute. Die FDP-Politikerin ist frisch ins EU-Parlament gewählt und Vorsitzende des EU-Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung. „Damit die Generation nach uns auch mal sagen können: Angesichts der Bedrohung, in der wir sind, haben es die Menschen in Europa wirklich geschafft, in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts auch eine europäische Verteidigungsunion aufzubauen.“ Der Zeitpunkt für eine europäische Verteidigungsunion wäre jetzt genau der richtige und ein wichtiges Signal nach Russland. Wir lassen uns nicht auseinander treiben, im Gegenteil.
Noch ist die Verteidigungsunion Zukunftsmusik. Der Ausschuss, dem Strack-Zimmermann vorsitzt, ist ein Unterausschuss. Doch noch in den nächsten Wochen soll er ein eigenständiger, vollwertiger Ausschuss werden. Fest steht: Die EU will im Angesicht der Bedrohungslage in Europa künftig selbst mehr für ihre Sicherheit tun und dabei auch unabhängiger vom großen Bruder USA werden. Doch einfach wird das nicht.