US-Politik: Risiken und Chancen der Gazagespräche
Es ist nicht einmal klar, ob es eine Atempause ist, was die Gazakrieg-Vermittler in Doha erreicht haben. Aufeinander zubewegt haben sich die Hamas-Terroristen und Israel jedenfalls nicht. Dass der scheidende amerikanische Präsident Joe Biden nach den zweitägigen Gesprächen Zuversicht zur Schau trug, war Zweckoptimismus. Denn das Ergebnis der Verhandlungen wirkt sich nicht nur darauf aus, wie es in Gaza weitergeht. Eine beispiellose Eskalation der Spannungen zwischen der von Iran angeführten „Achse des Widerstands“ und Israel hängt immer noch wie ein Damoklesschwert über der Region.
Die Amerikaner haben einen ungewöhnlichen Weg beschritten: Sie haben eine Krise mit einer anderen Krise verknüpft – in der Hoffnung, dass es am Ende in beiden Fällen eine Entspannung gibt. Eine Waffenruhe in Gaza soll Iran und die Hizbullah dazu bringen, Vergeltungsschläge abzusagen oder zumindest kleiner ausfallen zu lassen. Um dieser Botschaft Nachdruck zu verleihen, hat Biden eine Streitmacht in die Region beordert, wie man sie dort seit Jahren nicht gesehen hat.
Das ist dennoch hoch gepokert, denn der Erfolg der Gespräche hängt davon ab, ob sich die maßgeblichen Akteure, Benjamin Netanjahu und Yahya Sinwar, wirklich einigen wollen. Netanjahu wird von den USA bedrängt, befürchtet aber den Zerfall seiner Koalition. Vielleicht sieht er sogar eine Gelegenheit am Horizont aufziehen, Iran und dessen Atomprogramm mit amerikanischer Unterstützung zu attackieren. Sinwar könnte ein weiteres Ausbluten der Hamas vorerst abwenden, will aber vielleicht gerade den regionalen Krieg provozieren, den Biden verhindern will.
Die Balance bleibt prekär
Aber selbst wenn beide einem Verhandlungsergebnis zustimmten, wären längst nicht alle Probleme gelöst. Wie bei dem Geschicklichkeitsspiel, bei dem eine Kugel durch ein Labyrinth balanciert werden muss, ohne dass sie in ein Loch fällt, versuchen die USA seit dem 7. Oktober zu verhindern, dass der Nahe Osten völlig außer Kontrolle gerät. Die Anschläge auf den Hizbullah-Kommandeur Fuad Shukr und Hamas-Chef Ismail Haniyeh Ende Juli haben das Brett ins Schwanken gebracht – aber die Balance war schon vorher prekär. Sie wird es auch weiterhin sein, Gaza-Vereinbarung hin oder her.
Den Menschen im Gazastreifen würde eine Waffenruhe eine dringend benötigte Ruhepause verschaffen. Eine klare politische Vorstellung von der Zukunft dieses Gebiets hat Biden jedoch nicht zu bieten. Israel blockiert jede Initiative, die eine größere Rolle für die Palästinensische Autonomiebehörde vorsieht. Obwohl auch Sinwar das Schicksal seines Vorgängers Haniyeh ereilen dürfte, könnte die Hamas ein Machtfaktor bleiben.
Radikale Kräfte in Israel setzen den Rechtsstaat unter Druck
Auch die Hizbullah dürfte sich auf absehbare Zeit nicht aus dem Süden Libanons zurückziehen. Mittelfristig droht hier die größte Gefahr – denn mit dieser Bedrohung wird Israel sich nicht abfinden. Schon jetzt sind die Rufe nach einem Offensivschlag deutlich vernehmbar. Sobald die Armee nicht mehr in Gaza gebunden ist, rückt er auch praktisch in Sichtweite.
Und dann ist da noch das Land, das in Israel oft „der Kopf des Kraken“ genannt wird: Iran. Die USA werden nicht auf unbestimmte Zeit so viele Truppen im Nahen Osten binden (wollen), um Teheran abzuschrecken. Vor dem 7. Oktober galt Iran in Israel als die gefährlichste Bedrohung. Auch jetzt verlangen Kommentatoren, anstatt die „Tentakel“ zu bekämpfen, also Hamas, Hizbullah oder Huthi, solle Israel den Kopf ins Visier nehmen.
Das fordert auch derjenige, dem die Kraken-Metapher zugeschrieben wird: der frühere Ministerpräsident Naftali Bennett. Er lotet die Chance auf eine Rückkehr an die Macht aus. Das Beispiel Bennetts zeigt, dass nicht alles anders würde, wenn Netanjahu mit dem politischen Ruhestand vorliebnähme. Viel schlimmer kann es allerdings auch nicht kommen. Israels Demokratie gerät immer weiter unter Druck, radikale Kräfte machen inzwischen unverhohlen Front gegen den Rechtsstaat. Netanjahu findet dazu oft nur halbherzige Worte. Gleichzeitig nimmt der Terrorismus wieder zu, sowohl von Palästinensern als auch von Siedlern.
Dieser Krisenbogen würde sich nicht in Luft auflösen, selbst wenn es jetzt zu einem Ende des Gazakriegs käme. Aber wie sich zuletzt wieder gezeigt hat, können Krisen einander verstärken. Gerade der israelisch-palästinensische Konflikt ist, wegen seiner langen Dauer und weil er religiös stark aufgeladen ist, zu einem mächtigen politischen Faktor geworden. Solange er ungelöst bleibt, fällt es anderen Akteuren leicht, ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und zu behaupten, sie kämpften für die Palästinenser. Daher wären Fortschritte auf diesem Gebiet besonders wichtig. Aber daran haben sich schon viele amerikanische Präsidenten die Zähne ausgebissen.