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Jeden Abend kommen sie hierher, setzen sich auf die schwarzen Stühle vor der Eingangstür des hellen Klinkerbaus, die Kinder vor ihnen rennen umher. Die Rentnerinnen Ljubow und Jelena lehnen sich zurück und lachen manchmal so laut, dass ihre Goldzähne aufblitzen. „Hier draußen muntern wir uns gegenseitig auf“, sagt die 69-jährige Jelena. „Sobald ich wieder im Zimmer bin, kommt die Trauer. Die Erinnerung an die Einschläge, an die Flucht, die zurückgelassenen Tiere. Schrecklich alles.“ Ljubow, 68, blickt zu Boden. „Ich kann kaum schlafen, höre die Drohnen, zucke bei jeder Sirene zusammen. So bin ich lieber hier, mit den Leuten, die ich bis vor ein paar Tagen nicht kannte, die nun aber zu einer Art Verwandtschaft geworden sind.“

Ljubow und Jelena aus dem russischen Sudscha, nur neun Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, sind Flüchtlinge. Im eigenen Land. Im Studentenwohnheim der Agrar-Universität in Kursk haben sie einen Platz bekommen. Jelena teilt sich ein Zimmer mit Sohn und Enkel, Ljubow mit zwei Fremden. Es gibt dreimal am Tag zu essen, sie haben ein Dach über dem Kopf. „Hier schenkt man uns genug Aufmerksamkeit. Aber zu Hause hat sich unser Staat einen Dreck um uns gekümmert. Wir sind niemand für ihn, wurden einfach tagelang unserem Schicksal überlassen“, klagt Ljubow. „Das neue Semester fängt bald an. Wo bringt man uns hin, wenn die Studenten ihre Zimmer beziehen? Das sagt uns keiner.“

Seit dem 6. August rückt die Ukraine mit ihrer Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor

Auch die beiden Frauen sind – wie alle Geflüchteten und Getöteten – Opfer eines Krieges, den Russlands Präsident Wladimir Putin mit der Ausrufung seiner „militärischen Spezialoperation“ am 24. Februar 2022 der Ukraine erklärt hat: ihr Präsident Putin, den sie loben, schätzen, auf den sie nichts kommen lassen. Seit dem 6. August erobert die Ukraine russisches Territorium. Sie rückt mit ihrer Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor, zerbombt Häuser, zerschießt Autos, tötet Menschen. Damit tut sie das, was die russische Armee seit zweieinhalb Jahren und mit aller Härte in der Ukraine tut. Russland allerdings bezeichnet das als „Befreiung“ der Ukraine von „Nazis“. Die Ukraine wiederum will Putin demonstrieren, dass sie nicht aufgibt; sie will militärische Infrastruktur zerstören.

Jetzt also sind mehr als 140.000 Russinnen und Russen auf der Flucht, sie rennen teils in dem los, was sie am Körper tragen. Sie fliehen aus Sudscha, aus Lgow, aus Rylsk. Die meisten von ihnen finden in die Hauptstadt Kursk der gleichnamigen Region – sieben Autostunden südöstlich von Moskau, etwa 430.000 Einwohner – Unterschlupf. Hier ertönen fast stündlich die Sirenen, die Rotoren der Kampfhubschrauber dröhnen am Himmel. In mehr als 80 Ortschaften soll Moskau die Kontrolle über sein Territorium verloren haben. So heißt es zumindest aus Kiew. Täglich werden weitere russische Gebiete zur Evakuierung aufgefordert. „Standortwechsel an sicherere Orte“, nennt das der Kreml. Die Souveränität Russlands, mit der das russische Regime seinen Überfall auf die Ukraine rechtfertigt, ist plötzlich und erstmals angegriffen. Der Krieg ist, für alle ersichtlich, in Russland angekommen.

In Kursk rufen die Menschen nach dem Staat, Putin meinen sie damit nicht

Allerdings ist er für die meisten sehr weit weg – und scheint auf wenig Interesse zu stoßen. „Warum sieht denn der Rest des Landes nicht, was hier mit uns passiert“, beklagte man sich bereits in Belgorod und forderte eine „härtere Gangart“ gegenüber der Ukraine. Der Unmut richtete sich dabei in erster Linie gegen örtliche Beamte oder das Verteidigungsministerium, dem Korruption vorgeworfen wird. Auch in Kursk rufen die Menschen nach dem Staat. Putin meinen sie damit nicht. Seinen Rückhalt in der Bevölkerung kann offenbar nichts erschüttern, schuld ist immer der Westen. Der Westen habe auch den ukrainischen Vorstoß geplant, glauben viele.

Von „Krieg“ spricht in Kursk kaum einer. Der Staat nennt „die Lage“, wie auch in der benachbarten Region Belgorod, schlicht „eine Ausnahmesituation föderalen Charakters“ und hat auf dem gesamten Gebiet eine „Antiterroroperation“ ausgerufen. Dadurch erhalten die Geheimdienste mehr Macht.

Wie es weitergeht? Die Rentnerinnen Jelena (links) und Ljubow sind nach ihrer Flucht aus Sudscha erst einmal im Studentenwohnheim der Argar-Universität von Kursk untergekommen.
Foto: Inna Hartwich

Journalistinnen und Journalisten brauchen eine Spezialgenehmigung, um in die Region zu reisen. An den Einfahrten in das Gebiet und in die Stadt Kursk werden zuweilen Autos zur Kontrolle angehalten, in Kursk patrouillieren Polizisten und Nationalgardisten in voller Montur. In den Abendstunden ziehen Kolonnen aus Militärfahrzeugen und Bussen mit Soldaten über die Trasse in Richtung Grenze. Was die „Ausnahmesituation“ aber für die Menschen bedeutet, begreift selbst das lokale Regierungspersonal nicht. „Stündlich ändern sich hier die Regelungen. Wir nehmen es, wie es kommt“, sagt einer aus der Gebietsverwaltung.

Vor dem „Häuschen der Wohltaten“ in Kursk bildet sich eine lange Warteschlange

„Oma, schau, ich habe was für dich, das wird dir stehen“, ruft ein Mädchen in Kursk und zeigt seiner Großmutter eine Bluse, die an einer Stange hängt. Die Großmutter reagiert schroff: „Ich brauche das alles nicht. Ich will einfach nur nach Hause“, sagt sie. Alle hier wollen das. Wollen in ihre Häuser zurück, zu ihren Hunden, Schweinen, Kühen. Wollen auf ihre Höfe. „So schnell kommen wir aber nicht mehr dorthin“, sagt einer, der mit Vornamen Alexander heißt.

An Tag fünf des ukrainischen Vorstoßes sei er in seinem Auto, einem Schiguli, aus Sudscha geflüchtet, „über die Felder von den Drohnen davon“, erzählt er. „Ich wäre geblieben, aber die Kinder…“ Der Neunjährige und die 13-Jährige befinden sich nun in einer Kursker Wohnung. „Ich habe kaum Hoffnung. Das hier ist auf lange“, sagt Alexander. Die Hilfsbereitschaft in Kursk ist groß, die Warteschlangen lang. Vor dem „Häuschen der Wohltaten“ in der zentrumsnahen Belinski-Straße dürfte sich die längste gebildet haben. Die Ersten haben sich um 5 Uhr angestellt, die Letzten werden noch weit nach Anbruch der Dunkelheit hier ausharren.

„Unsere Jungs, sie werden uns retten“, sagt Sewtlana Kosina

„Für ein Kind, vier Jahre alt, schnell ein Paket her. Das habe ich doch schon vor 20 Minuten weitergegeben, Mann ey!“, schreit eine Freiwillige und gibt einer Frau und einem Mann eine Matratze und zwei Kissen. „Ich warte auf das Kinderpaket!“, drängt sie ihren Mithelfer. Der Hof ist voller Tüten und Kartons, draußen an den Tischen sitzen andere Helfer in leuchtenden Westen und schreiben Pass-Daten ab. Immer wieder halten Autos an, Kofferräume werden geöffnet, Gurken herausgeholt, Klopapier, auch Windeln. „Swetlana, wohin damit?“, fragt jemand.

Swetlana Kosina kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Die Überforderung. „Ich schlafe höchstens zwei Stunden, habe angefangen zu rauchen, mein Zweijähriger musste vor ein paar Tagen seinen Geburtstag ohne mich feiern“, sagt die Leiterin des „Häuschens der Wohltaten“ in einer Pause. Vor neun Jahren hatte die 34-Jährige eine Art Suppenküche für Obdachlose in Kursk gegründet. Keine Stiftung, keine Nichtregierungsorganisation, „einfach eine kleine Freiwilligengruppe“. Als die Kämpfe um Sudscha begannen, fuhr sie dorthin, nahm Leute mit. „Sie hatten nichts, und wir hier hatten ein paar Kleider, etwas zu essen.“ Das sprach sich herum. Jetzt stehen täglich schon bis zu 3000 Familien in der Belinski-Straße an. „Niemand hat uns gehört, als wir sagten, dass so etwas passieren kann. Nun ist es passiert. Aber unsere Jungs, sie werden uns retten“, meint Sewtlana Kosina.

„Unsere Jungs“, das sind die Soldaten der russischen Armee. Auf sie setzen viele. „Wird schon, müssen nur ein bisschen warten“, sagt Nikolai vor der Ausgabestelle des Roten Kreuzes. Er klingt wie das, was in einer Abendsendung des russischen Staatsfernsehens zu hören ist. „Selenskyj, der Clown“, „wir haben alles unter Kontrolle“ – aus Nikolai stürzen die Propaganda-Sätze regelrecht heraus. „Diese Nazis, diese ukrainischen Banditen sollte man alle niedermetzeln. Haben wir sie etwa besetzt? Nein! Uns geht es um Menschen. Aber ihnen geht es um die Vernichtung unseres Volkes, unseres Russland. Wir haben allerdings einen klugen, verständnisvollen Präsidenten. Er wird das alles in Ordnung bringen“, ereifert sich der Rentner. „Wir werden siegen!“ Es ist ein Satz, den viele Geflüchtete in Kursk sagen. Voller Trotz. Und als bräuchten sie diese Worte, um sich etwas zu beruhigen.

Aus Moskau verlautet: Man habe den ukrainischen Vorstoß weiter zurückgeschlagen

Für Aufregung kann ja so einiges sorgen. Am Freitag berichten Medien, darunter die Deutsche Presse-Agentur, dass ein aufseiten der Ukraine kämpfendes russisches Freiwilligenkorps an die Soldaten der russischen Armee appelliert habe, sich zu ergeben. Überzulaufen. Es kursiert ein Video von Kiews Luftlandetruppen, das den Beginn der Bodenoffensive zeigen soll. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird zitiert: Ihm zufolge ist Sudscha vollständig unter ukrainischer Kontrolle. Aus Moskau verlautet dagegen, man habe den Vorstoß weiter zurückgeschlagen. Die Angaben beider Seiten lassen sich nicht überprüfen. Dass Sudscha zum Sitz der ersten ukrainischen Militärkommandantur auf russischem Gebiet geworden ist, daran gibt es allerdings keine Zweifel.

Und auch nicht daran: Der Krieg rückt näher an die Russinnen und Russen heran. Dass viele scheinbar gleichgültig darauf reagieren, kann man durchaus erklären. Zum Beispiel damit, dass sie das Gefühl haben, ohnehin nichts dagegen ausrichten zu können.