Diese vierzehn Buchstaben – oder vielmehr das, was daraus wurde – haben laut Merkel auch den Anstoß dazu gegeben, nicht nur die Ereignisse des Sommers der Flüchtlingskrise von 2015 aus ihrer Sicht zu beschreiben, sondern gleich ihr gesamtes Leben. Lange Zeit habe sie sich nicht vorstellen können, Memoiren zu verfassen, doch 2015 habe sich das geändert: „Damals hatte ich entschieden, die in der Nacht vom 4. auf den 5. September aus Ungarn kommenden Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze nicht abweisen zu lassen. Diese Entscheidung, vor allem ihre Folgen, erlebte ich als eine Zäsur in meiner Kanzlerschaft. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Damals nahm ich mir vor, eines Tages, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin sein sollte, den Ablauf der Ereignisse, die Motive meiner Entscheidung, mein mit ihr verbundenes Verständnis von Europa und Globalisierung in einer Form zu schildern, die nur ein Buch ermöglicht.“ Sie habe die weitere Schilderung und Interpretation der damaligen Ereignisse nicht allein anderen überlassen wollen, begründet die Autorin ihren Entschluss. Auch ihre eigene Partei dürfte sich damit angesprochen fühlen, hadert die CDU doch zumindest in Teilen seit Jahren mit dem Satz und lotet beständig aus, wie sie sich mit einer Kursänderung gegen den Aufstieg der AfD, der sich an Merkels Flüchtlingspolitik knüpft, zur Wehr setzen könnte.
Wie genau der mittlerweile historische Satz entstanden sein soll, schildert Merkel in einem Kapitel mit dem Titel „Die Sommerpressekonferenz“. Es führt zurück in das turbulente Jahr 2015. In der ersten Jahreshälfte hatten Griechenland und die Eurokrise einen Großteil der europäischen Aufmerksamkeit beansprucht. Unter der Führung des griechischen Regierungschefs Alexis Tsipras und seines irrlichternden Finanzministers Giannis Varoufakis stand das Land kurz vor einem unkontrollierten Ausscheiden aus der Eurozone mit unabsehbaren Folgen für den Rest der Gemeinschaftswährung. Und kaum hatte sich die Lage durch Varoufakis’ Rücktritt und die Annahme des dritten Hilfspakets für Griechenland Mitte Juli zumindest fürs Erste etwas beruhigt, wurde die nächste große Krise jenes Jahres mit voller Wucht sichtbar.
Sie war von anderer Art, spielte sich aber ebenfalls zum Teil in Griechenland ab. Dort, auf den ägäischen Inseln Chios, Kos, Samos, Lesbos und Leros, kamen täglich Hunderte, später Tausende Migranten aus der Türkei an, um von dort mit Fähren auf das griechische Festland und dann über die Balkanroute weiter nach Nordwesteuropa zu reisen, vor allem nach Deutschland. Tsipras habe ihr schon im Frühjahr 2015 am Rande eines Treffens der europäischen Regierungschefs berichtet, „dass sich die Zahl der aus der Türkei auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge monatlich nahezu verdoppelte, vor allem die der syrischen, aber auch die der afghanischen und irakischen Flüchtlinge“, schreibt Merkel. Schon da habe sie geahnt, dass diese Entwicklung nicht nur Griechenland beschäftigen würde, fügt sie an.
Es war kein Ende in Sicht. Die Zahlen waren eindeutig. Im Jahr 2012 waren in Deutschland knapp 65.000 Asylanträge registriert worden, 2013 schon fast 110.000 und 2014 dann sogar mehr als 170.000. Im Mai 2015 hatte Merkels Innenminister Thomas de Maizière mitgeteilt, dass für das laufende Jahr mit 400.000 Asylerstanträgen zu rechnen sei, mindestens. Schon Mitte August musste er seine Prognose korrigieren: Es seien 800.000 Asylanträge zu erwarten. Am Ende waren es 890.000, die jedoch im gleichen Jahr gar nicht alle registriert werden konnten, weshalb sie in der Asylantragsstatistik für 2015 nur zum kleineren Teil erfasst wurden. 890.000 – das sind fast neun Großstädte. Mehr Menschen, als in Frankfurt am Main leben. Die Zahlen waren das eine. Das andere war: Es war kein Ende in Sicht. Immer noch kamen Tag für Tag Tausende Menschen auf den griechischen Inseln an, reisten über die sogenannte Balkanroute, deren Staaten sich darin überboten, sie möglichst schnell durch ihr Gebiet zu schleusen, weiter nach Nordwesteuropa. Eine Völkerwanderung. Wie sollte das enden? Würde es überhaupt enden?
Vor ihrer jährlichen Sommerpressekonferenz wusste Angela Merkel, dass sie dazu etwas sagen musste. Und so saß die deutsche Regierungschefin am Vormittag des 31. August in ihrem Büro mit Reichstagsblick und fragte sich, mit welchen Worten sie ihre gleich beginnende Presseansprache eröffnen sollte. Frustriert sei sie gewesen, schreibt Merkel. „Gerade erst haben wir das Griechenland-Problem hinter uns, und sofort liegt das nächste Riesenthema vor der Haustür. (…) Aber egal! Irgendwie werden wir auch das schaffen. Wir haben das andere ja auch geschafft“, habe sie zu ihrer Bürochefin und engen Vertrauten und jetzigen Ko-Autorin Beate Baumann gesagt. Die habe geantwortet: „Stimmt. Und genau das können Sie doch genau so, wie Sie es mir hier jetzt gesagt haben, auch in der Pressekonferenz sagen.“ Merkel, schreibt Merkel, war verblüfft: „Ich schaute sie an und dachte: Manchmal kann es ganz einfach sein. Sie hat recht. Wenn ich diese Botschaft rüberbringe, kann ich Mut machen und zugleich zeigen, dass ich mir der Größe der Aufgabe bewusst bin, sonst brauchte ich so ja gar nicht erst zu sprechen.“ Mit den Worten „Danke und bis nachher“ habe sie sich von Baumann verabschiedet und ihre Notizen für die Pressekonferenz entsprechend angepasst. Der Rest ist deutsche Zeitgeschichte, zusammengeschmolzen auf wenige Sätze: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“
Hätte damals jemand gesagt, dass ihr diese Worte noch jahrelang und von einigen sogar bis heute vorgehalten würden, hätte sie ungläubig gefragt: „Wie bitte? Ich soll nicht sagen, dass wir das schaffen können, weil diese Worte so missverstanden werden könnten, dass ich alle Flüchtlinge dieser Welt nach Deutschland holen wollte?“ Die berühmten Worte, so die Altkanzlerin im Rückblick, standen für ihr tiefes Vertrauen darin, dass es genügend Menschen in Deutschland gab, „die so dachten und fühlten wie ich und denen ich meinerseits Mut machen konnte“.
Für den Augenblick war die Merkel’sche Ruck-Rede vielleicht tatsächlich genau der rhetorische Mutmacher, den viele Lokalpolitiker, Kirchenleute, Ärztinnen, ehrenamtliche Helfer, Betreuer von unbegleiteten Jugendlichen und andere Beteiligte in den Kommunen, wo die eigentliche Herausforderung der Aufnahme Hunderttausender zu stemmen war, in jenen Tagen brauchten. Doch wie lange würde dieser Augenblick anhalten? Wie weit konnten diese Worte tragen, wo doch weiterhin täglich Tausende Menschen ins Land kamen? Wie sollte das weitergehen, wohin führen? Diese Frage stellte sich umso dringlicher nach dem Tag, „an dem es zum Schwur darüber kommen würde, wie sich Europa in einer Situation verhält, in der täglich Tausende Flüchtlinge über den westlichen Balkan nach Westeuropa kamen“, wie Merkel den 4. September 2015 in ihren Memoiren nennt.
Die Kanzlerin ist an jenem Freitag im Land unterwegs, hält abends eine Rede in Köln. Sie wird begleitet von ihrem stellvertretenden Büroleiter Bernhard Kotsch. Kotsch war zu Beginn seiner Karriere, kurz nach dem Ende der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe in Mazedonien im Jahr 2001, als junger Diplomat ein kenntnisreicher und stets auskunftsbereiter Pressesprecher an der deutschen Botschaft in Skopje gewesen, hatte sich später aber beurlauben lassen, um in Merkels Dienste zu treten. Während seine Chefin in Köln spricht, erhält Kotsch einen Anruf des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Werner Faymann aus Österreich. Faymann will die Kanzlerin dringend sprechen, weil sich Tausende Menschen von Budapest aus zu Fuß über die Autobahn auf die österreichische Grenze zubewegen. Auch Merkel hat die Berichte darüber gesehen. In ihren Memoiren heißt es: „Ich spürte: Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Wenn Europa es nicht zulassen wollte, dass es Tote auf der Autobahn geben würde, musste etwas geschehen.“
Eine Entscheidung ohne Rücksprache mit Seehofer
Als sie nach ihrer Rede mit Faymann telefonierte, habe der gefragt, ob Deutschland und Österreich sich die Aufnahme der herannahenden Menschen teilen könnten: „Faymann wollte die Entscheidung nicht selbst treffen, die Verantwortung lastete auf mir, und ich war entschlossen, sie wahrzunehmen. Es handelte sich um eine humanitäre Notlage.“ Merkel beschreibt den Moment vor allem als Frage ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit. Schließlich habe sie über die Jahre viele Reden zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gehalten. „Daraus folgte jetzt für mich, dass jeder Mensch, ganz gleich ob er eine Chance haben würde, in Europa bleiben zu können oder nicht, Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung hatte, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Europa. Dafür wollte ich mich weiter einsetzen, und mir war klar, dass es ohne Deutschland nicht gelingen würde, die Situation unter Kontrolle zu bringen.“
Doch um entscheiden zu können, muss sie Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel von der SPD sowie den CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer einbinden. Mit Steinmeier und Gabriel funktioniert das offenbar unkompliziert, beide bringen keine Einwände vor. Zu den Versuchen der Kanzlerin, in jener Nacht Seehofer ans Telefon zu bekommen, kursieren seit Jahren verschiedene Schilderungen. Die Version von Angela Merkel geht so: „Was ich auch versuchte – zusätzlich auch mithilfe des Chefs des Kanzleramts, Peter Altmaier, und der Chefin der Bayerischen Staatskanzlei, Karolina Gernbauer, des Lagezentrums des Kanzleramts, der Personenschutzkommandos, mit nochmaliger eigener Bitte um Anruf per SMS um 22.33 Uhr –, ich bekam ihn nicht an den Apparat.“
Wie Seehofer in den Wochen danach reagierte, schildert Merkel in einem anderen Kapitel ihres Buches, das die herzhafte gegenseitige Abneigung der beiden Politiker weiter verfestigen dürfte. Am 4. September 2015 habe sie jedenfalls gegen 22.45 Uhr beschlossen, ohne Rücksprache mit Seehofer zu handeln. Mit Faymann gab sie kurz nach Mitternacht über Facebook bekannt, dass die Menschen aus Ungarn nach Österreich und Deutschland einreisen dürfen.
Die Frage nach der Garantie
Eine andere Episode, die in den deutschen Debatten über das Jahr 2015 oft auftaucht, kommt dagegen in Merkels Memoiren allenfalls indirekt vor. Sie betrifft Berichte über eine Telefonkonferenz am 12. September jenes Jahres mit Merkel, de Maizière, Seehofer, Gabriel, Steinmeier sowie Kanzleramtsminister Peter Altmaier. In ihrem Verlauf soll diskutiert worden sein, ab dem 13. September, einem Sonntag, Grenzkontrollen einzuführen und gegebenenfalls Menschen physisch abzuweisen. Dies sei jedoch auch deshalb gescheitert, weil niemand eine von Merkel geforderte Garantie geben konnte, dass ein solcher Einsatz keine hässlichen Bilder produzieren dürfe. Merkel nimmt in ihren Memoiren nicht Stellung dazu, ob diese Diskussion so wirklich stattfand.
Ihren Anspruch, stets auch öffentlich dafür einzutreten, dass Flüchtlingen oder Migranten überall in Europa eine menschenwürdige Behandlung zusteht, hat Merkel später ohnehin aufgegeben. Ein Beispiel dafür ist der Besuch von Kroatiens Regierungschef Andrej Plenković in Berlin im August 2018. Plenkovićs Polizei, das war zu diesem Zeitpunkt durch minutiös dokumentierte Belege von Menschenrechtsgruppen, des Europarats sowie journalistische Recherchen und Berichte der kroatischen Ombudsfrau längst auch öffentlich bekannt und vielfach bestätigt, brach an der europäischen Außengrenze systematisch einheimisches sowie internationales Recht. Aufgegriffene Migranten wurden wieder über die Grenze nach Bosnien abgeschoben, viele wurden verprügelt und misshandelt, einige wohl auch beraubt. Dennoch lobte Merkel ihren kroatischen Verbündeten, dessen „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ zur gleichen Parteienfamilie wie die CDU gehört, auf der Pressekonferenz in Berlin für die gute Kooperation in der Migrationspolitik und beim Schutz der europäischen Außengrenzen: „Kroatien leistet mit seinen Sicherheitskräften hierbei eine herausragende Arbeit. Das will ich ausdrücklich würdigen.“ Die Arbeit der kroatischen Polizei an der Außengrenze sei „ein Beweis dafür, dass Kroatien schon weit fortgeschritten ist“.